1848 -
Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Neudecker, Chr. Gotth., Schröer, Tobias Gottfried
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Privatunterricht, Töchterschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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die mehr einem flüchtigen als siegreichen Heere ziemte; sie hatte hauptsäch-
lich darin ihren Grund, daß die Russen alles Land auf ihrem Rückzuge
verheerten und allen Vorrath mit sich nahmen, so daß für die ermüdete
Armee nirgends Rast und Erquickung, für die vielen Tausende Verwun-
deter nirgends eine Unterkunft zu finden war. In Moskau hoffte die fran-
zösische Armee Ersatz für alle Beschwerden zu erhalten, und Napoleon
rechnete darauf, dort den Frieden dictiren zu können. Am 14. September
langten die Franzosen in dieser Hauptstadt an, fanden sie aber beinahe
eben so öde und verlassen, wie die Dörfer auf der Straße dahin, denn von
einer Bevölkerung von 300,000 Menschen waren kaum 30,000 zurückge-
blieben', die Häuser meist verschlossen, und kein Magistrat, keine Behörde
fand sich ein, die Sieger zu begrüßen. Napoleon erlaubte den Soldaten
die Plünderung der Stadt, doch das Rauben wurde bald durch ein furcht-
bares Ereigniß unterbrochen, indem an mehr als hundert Stellen der Stadr
Feuer ausbrach, das bald furchtbar wüthete. Da der russische Gouverneur
auch die Löschwerkzeuge mitgenommen hatte, konnte man der furchtbaren
Feuersbrunst nicht wehren, der größte Theil der Stadt brannte nieder, und
die Soldaten, anstatt eine Herberge zu finden, mußten wieder auf das leere
Feld hinausziehen und sich im Freien lagern. So unermeßlich auch die
Beute war, die sic an allerlei kostbaren Stoffen machten, war doch in der
ganzen Stadt an den nöthigsten Lebensmitteln, an Brod und Fleisch kaum
so viel aufzufinden, als für die Truppen wahrend ihres Aufenthaltes vom
k4. September bis 17. October erforderlich war. Noch hätte sich das
Heer retten können, wäre es gleich in den ersten Tagen zurückgckehrt, allein
Napoleon schickte Gesandte mit Friedensanträgen an den russischen Ge-
neralissimus Kutusow, und dieser hielt den Feind mit vielem Geschicke
vier Wochen lang hin, bis die größte Noch die Franzosen zwang, aufzu-
brechen und den Rückzug anzutreten. Zu gleicher Zeit setzte sich auch das
russische Heer in Bewegung. Bei Iaroslawez kam es zu einer Schlacht,
in welcher die verzweifelten Franzosen zwar siegten, ohne jedoch dadurch ihre
Lage zu verbessern; denn zu gleicher Zeit trat eine furchtbare Kälte ein,
welche die Noch der Franzosen auf das Höchste steigerte. Die Pferde, gleich
Gerippen ausgehungert, fielen zu Tausenden hin, Tausende wurden ge-
schlachtet und von den Hungrigen verzehrt. Nun blieben die Kanonen auf
der Straße liegen. Hunger, Kälte und Müdigkeit rafften täglich mehr
Menschen, als eine Schlacht dahin, und die Straße von Kaluga bis Smo-
lensk war mit Leichen übersäet. Ehe noch die Unglücklichen diese Stadt
erreichten, hatten schon die Meisten die Waffen weggeworfen; die, welche
nach Smolensk kamen, stürzten sich auf die daselbst aufgehäuften Vor-
räthe, um sich zu sättigen. Diese Vorräthe bestanden meist aus Mehl,
das sie oft gierig verschlangen, ohne zu warten, bis es zu Brod gebacken
worden war. Am '2 7. November kam der Rest der großen Armee, nicht
mehr als 40,000 Mann, im schrecklichsten Zustande — in Lumpen gehüll-