1846 -
Breslau
: Graß, Barth
- Autor: Löschke, Karl Julius
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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Verfall
liehen Wendung der Verhältnisse verzweifelnd, in sein eigenes Schwert.
Allgemeine Verstörung herrschte in Rom, als dort die Kunde vernom-
men wurde: „Varus und seine Legionen sind nicht mehr!" Der Kai-
ser Augustus verlor alle Besinnung. Fast fünfzig Tausend der kräf-
tigsten Krieger hatte er verloren; verzweisiungsvoll rannte er in seinem
Palaste umher, stieß den Kopf gegen Thüren und Wände und rief:
„Varus, Varus! gieb mir meine Legionen wieder!" Die Römer hielten
nun nichts für gewisser, als daß die Sieger nach Italien kommen und
nicht eher ruhen würden, als bis sie schmählich Rache genommen;
darum sollte sogleich ein Heer gerüstet und an den Rhein geschickt wer-
den. Allein der Schrecken in Rom war so groß, daß die Soldaten
sich weigerten, auszurücken. Augustus konnte die Widerstrebenden nicht
anders zwingen, als indem er mit der Todesstrafe drohete. Doch den
Deutschen war cs nicht um Eroberungen zu thun: ihr Ziel war er-
rungen, als sie sich frei von ihren Drängern sahen; nur die Burgen
und Verschanzungen, welche am Rhein waren angelegt worden, zerstör-
ten sie noch. Spätere Versuche der Römer, aufs Neue in Deutsch-
land einzufallen, scheiterten gleichfalls an der germanischen Tapferkeit,
und die Deutschen blieben frei; ja es war ihnen, wie wir in der Folge
erfahren werden, sogar Vorbehalten, dem in sich selbst absterbenden Rö-
merreiche der^ Todesstoß zu geben, während sich aus den zahlreichen
germanischen Völkerstämmen in späteren Jahrhunderten die Keime zu
neuen kräftigen Reichen, die statt des heidnischen ein christlicher Geist
durchdrang, entwickelten.
Viii. Pas Christenthum.
Religiöse Zustände der Heiden und Juden.
tz 52. Die Völker, von denen bisher erzählt worden, waren größ-
tentheils Heiden, d. h. solche, die eine Mehrzahl von Göttern ver-
ehrten; nur die Juden rühmten sich der Offenbarung des Einen wah-
ren Gottes. Aber wie sah es um die Zeit, von welcher jetzt die Rede
ist, bei den Heiden, wie bei den Juden in religiöser Hinsicht aus? Die
heidnischen Religionen, wenn sie auf das Leben der Menschen wirken
sollten, forderten einen unbedingten, blinden Glauben, forderten Leicht-
gläubigkeit. So lange die Völker in ihrem Kindesalter waren und in
ihrer unvollkommenen Götterlehre für die Sehnsucht nach Gott, welche
der Schöpfer selbst in jede Menschenbrust gepflanzt hat, Befriedigung
fanden; so lange konnte das Heidenthum bestehen und auf die Sitt-
lichkeit der Menschen wirken: als die Völker aber zu höherer Einsicht
heranreiften, als der menschliche Verstand nicht bloß den sinnlichen