1845 -
Berlin
: Klemann
- Autor: Duller, Eduard
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Geschichte
Ludwigs Xiv. Reunionen. — Die Türken vor Wien. 1683.
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hierauf im Jahr 1683 ein Heer von zweimalhunderttausend Türken durch
Ungarn gerade gen Wien, und dachte für gewiß, es zu erobern und zu
seiner Hauptstadt zu machen. Kaiser Leopold floh mit seinem ganzen Hof-
staat aus der edlen Stadt, welche schon einmal den Angriff des großen Su-
leiman so glorreich ausgehalten hatte, gen Linz an der Donau hinauf, von
dort nach Passau. Vergeblich hatte er die Reichsstände zur Hilfe entboten,
und es galt ja nicht bloß Oesterreichs, sondern Deutschlands Rettung; denn
wehe dem Vaterland, wenn Kara Mustafa Wien gewann! Nur vierzigtau-
send Mann kamen gegen die ungeheure Uebermacht der Türken zusammen;
aber an ihrer Spitze stand ein edler Held, der Herzog Karl von Lothrin-
gen, und in Polen rüstete der fromme ritterliche König, Johann Sobiesky,
auf eigne Kosten ein Heer von achtzehntausend Mann, alle — wie ihr König
—von Begeisterung glühend, für den Christusglauben zu kämpfen.
In Wien hatte Graf Rüdiger von Stahremberg den Oberbefehl;
die Besatzung bestand aus einundzwanzigtausend neunhundertsechzig Mann,
mit Einschluß der bewaffneten Bürgerschaft. Furchtbar hatten die Türken
auf ihrem Heereözug gehaust; siegesgewiß standen sie am 14. Juli 1683
vor Wien, dessen Wälle und Mauern im schlechten Zustand waren. Um so
höher wuchs die Begeisterung der Wiener, um so fester war ihr Muth.
Zwei Monate lang halten sie in der entsetzlichen Noth standhaft aus, ob
auch die Türken mit Laufgräben und Minen immer näher herandringen. Auch
jetzt schweigen (wie damals bei der ersten Türkenbelagerung) alle Glocken in
Wien. Am 10. September wird schon die Burgbastei durch eine Mine ge-
sprengt; unablässig donnern die Kanonen der Türken; so viel Muth, so viel
treues Blut scheint verloren; Noth, Hunger, Leichen in allen Gassen Wiens;
es erwartet seine letzte Stunde. Aber schon sind auch die Retter in der
Nähe, — die Polen und die Baiern, die Sachsen und die Kaiserlichen; sie
vereinigen sich auf den Höhen des Kalengebirges, welches Wien hinter der
Donau im weiten Halbkreis umgibt; sie schauen tiefergriffen hinab auf den
Pulverdampf, der die unglückliche herrliche Stadt umhüllt. Da schwimmt in
der Nacht ein Reitersmann aus Wien durch die Donau hinüber und bringt
dem Herzog von Lothringen einen Zettel, des kurzen Inhalts: „Keine Zeit
mehr verlieren, gnädigster Herr! ja keine Zeit mehr verlieren!" und Raketen
steigen in vollen Garben zum Zeichen der äußersten Noth vom Stephans-
thurm empor. Da sehen die Wiener von einer Bergesspitze gleichfalls Ra-
keten aufsteigen, — das ist die trostreiche Antwort auf ihr Nothzeichen; sie
sehen auf der Spitze des Leopoldsberges eine rothe Fahne flattern, die ihnen
Rettung verheißt. Dies gesehn, — und vergessen ist plötzlich in Wien die
lange Noth , und Alle drinnen, Mann und Weib, Greis und Kind, jauchzen
hochauf, stürzen einander in die Arme und weinen vor Freude; sinken auf
die Kniee und danken Gott; eilen auf die Wälle, stellen sich in Schaaren
und begehren einen Ausfall. Am 12. September, bevor noch der Tag graut,
liest der Kapuziner Marco d'aviano, weit und breit als ein heiliger Mann
geehrt, auf dem Leopoldsberg die Messe und weihet das christliche Heer zur
Schlacht des Entsatzes; der Polenkönig schlägt seinen Sohn zum Ritter und
ruft seinem Heere zu: „Ihr kämpft für Gott, nicht für mich! Mein einziger
Befehl ist heute der: — folgt meinem Beispiel!" Dann zieht das christliche
Heer kampffreudig die Höhen des Kalengebirges herab. Fünf Kanonen-
schüsse geben das Zeichen zur Schlacht. Jeder Hohlweg, jeder Schutthaufen
wird von den Türken vertheidigt, von den Christen gestürmt. Der Groß-
wesir läßt indessen, während sein Heer den Angriff des christlichen aushalten
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