1845 -
Berlin
: Klemann
- Autor: Duller, Eduard
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Geschichte
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Siebentes Buch. Vierter Abschnitt.
4,
Seht her; der Erde Nationen,
Seht und erkennet Gottes Hand.
R ü ck c r t.
Nun stand Napoleon auf dem höchsten Gipfel seiner Macht. Er be-
trachtete die Welt als sein eigen, alle Völker als seine Sklaven, alle Kö-
nige als seine Vasallen. Er erkannte Niemand über sich, nirgends sah er
einen Nebenbuhler seiner Gewalt. Da ließ er seine Ehe mit seiner Gemah-
lin Josephine Beauharnois, von welcher er keine Kinder hatte, auflösen,
warb um die Tochter des Kaisers Franz von Oesterreich, die Erzherzogin
Maria Louise, und erhielt ihre Hand. Am 2. April .1810 feierte er
seine Vermählung mit ihr und fünf Königinnen trugen der Kaiserin von
Frankreich dabei die Schleppe. Schon im folgenden Jahr gebar sie dem
Weltbeherrscher einen Sohn, Napoleon Franz, welcher schon in seiner silber-
nen Wiege König von Rom genannt wurde. So war nun der weiland
Sohn der Revolution verschwägert mit einem der ältesten und ehrwürdigsten
Fürstenhäuser Deutschlands; viele meinten, das sei zu Deutschlands Heil;
aber dies kümmerte jenen gewaltigen Mann nichts. Am 19. Juli desselben
Jahres starb Preußens Königin Louise im tiefen Schmerz über das Un-
glück des Vaterlandes.
Napoleon ließ nun in unbegrenzter Machtvollkommenheit seine Willkür
über Deutschland ergehn. Als sein Bruder Ludwig die Krone von Holland
niederlegte, weil er das Volk nicht nach Napoleons Geboten verderben wollte,
erklärte dieser Holland für eine bloße Anschwemmung der drei französi-
schen Ströme, des Rheins, der Maas und der Schelde, und verschmolz es
mit Frankreich. Sodann vereinigte er auch einen großen Theil von Nord-
deutschland, worunter die Besitzthümer mehrerer Fürsten des Rheinbun-
des, Oldenburg, Hamburg, Bremen und Lübeck, mit Frankreich. Das deut-
sche Nationalgefühl war ihm verhaßt; denn er wußte gar wohl, daß darin
auch die Sehnsucht nach Freiheit lag, und suchte es ganz und gar zu ver-
nichten. Er unterdrückte die Handelsfreiheit und die geistige Freiheit, er
stellte das Zeitungswesen unter die strengste Aufsicht, um die öffentliche Mei-
nung zu vernichten. Er unterhielt den nothwendigen Fluch aller Tyrannei,
die Pest aller Sittlichkeit, nämlich eine geheime Polizei. So glaubte er
sich unantastbar, unüberwindlich. Aber eben dieser stolze Wahn führte sein
Verderben herbei. Immer kühner in seinen Entwürfen, wollte er weiter gen
Osten dringen, um die Welt zu erobern, und ahnte nicht, daß indessen schon
dies unser deutsches Vaterland, welches er für so ganz verknechtet und mark-
los hielt, gerade durch den unerträglichen Druck sein ganzes Bewußtsein,
seinen ganzen Nationalstolz, seine ganze Kraft wiedergewonnen hatte. Ver-
geblich warnte man ihn vor dem Volksgeist, welcher sich in Deutschland
allerorten rege; Napoleon verachtete die Deutschen und gab zur Antwort:
„Die Deutschen werden niemals Spanier!" Er sollte kennen lernen, daß sie
noch Deutsche waren!
Es war im Jahre 1812, da schaffte der Kaiser von Rußland das un-
erträgliche Kontinentalsystem in seinem Reiche ab. Dies nahm Napoleon
zum willkommenen Anlaß, um Rußland zu bekriegen; er hoffte, dies unge-