1867 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Geschlecht (WdK): Jungen
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2. Die Lage Europa's im Anfänge der neuesten Zeit.
Preußens Wiedergeburt war durch die allgemeine, herrliche
Begeisterung des Volkes bewirkt worden, die Unglaubliches geleistet,
und sich in fast wunderbaren Großthaten geäußert hatte. Nur eine
solche Begeisterung machte es ausführbar, daß der ganz verarmte
und auf die Hälfte seines Gebietes beschränkte Staat ein trefflich
gerüstetes und eingerichtetes Heer von mehr als 200,000 Mann auf-
stellen konnte, das in den Schlachten der unsterblichen Feldzüge von
1813 bis 1815 fast allein entschieden hatte. Die natürliche und
unmittelbare Folge davon war, daß Preußen die Bewunderung, die
Achtung und das Vertrauen der Völker wiedererlangte. Die Augen
von Europa und Deutschland waren erwartungsvoll aus Preußen
gerichtet. Aber schon hatten die Staatsmänner des rechtlichen und
biederherzigen Königs Friedrich Wilhelm Iii. mit voreiliger Bereit-
willigkeit in Folge des Vertrages zu Kalisch Polen an Rußland,
Hildesheim und das treue Ostfriesland an Hannover, d. i. an Eng-
land, überlassen. Dafür mußte nun das preußische Cabinet auf
Sachsen als auf eine allein angemessene und genügende Entschädigung
Anspruch machen. Es berief sich dabei theils auf das Eroberungs-
Recht, und theils auf den Umstand, daß der König von Sachsen für
seine dem Neichsfeinde bewiesene Hingebung keine Schonung, viel-
mehr Strafe verdiene. Dadurch, daß Preußen auf diese Art eine
Entschädigung zu nehmen genöthigt war, ward es von der Gunst
der übrigen Hauptmächte abhängig, die ihm an materiellen Macht-
mitteln so weit überlegen waren. Preußen, empfindlich über den
Widerstand, den es in seinen Ansprüchen von Seiten Oesterreichs,
Englands und Frankreichs fand, warf sich mit unbedingtem Ver-
trauen in Rußlands Arme, mußte aber bald erfahren, daß es auch
von dieser Macht nur kalt und lau unterstützt ward. Daher war
es, verlassen und selbst angeseindet von seinen deutschen Mitmächten,
ausschließlich auf die eigene Kraft angewiesen. Diese, ihrer ganzen
Fülle nach, in Anwendung zu bringen, verordnete Preußens König
die allgemeine Waffenpflichtigkeit, und versprach feierlich und förm-
lich eine zeitgemäße Verfassung.
Die baierische Regierung zeigte immer entschiedener das Be-
streben, sich zu einer großen und unabhängigen europäischen Macht
zu erheben. Sie hatte Tirol und Salzburg an Oesterreich zurück-
gegeben, und dafür Würzburg, Aschaffenburg und die Aussicht auf
noch anderweitige Entschädigung erhalten. Noch leitete sowohl die
äußere Politik, als die innere Verwaltung der kluge und schlau-
gewandte Montgelas. Allein da seine Verwaltung eben so willkür-
lich, als gewaltthätig war, so war er beim Volke fast allgemein ver-
haßt, indem man den Druck seiner Verwaltung ausschließlich ihm,
und keineswegs dem gutmüthigen und menschenfreundlichen Könige
Maximilian Joseph beimaß; und so ließ sich der Sturz dieses Mi-
nisters um so mehr voraussehen, je mehr es bekannt ward, daß der
Kronprinz an der Spitze der Gegenpartei stand. Obgleich einerseits