1867 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Geschlecht (WdK): Jungen
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56. Der Aufstand der einheimischen Truppen in Indien.
äußert, und seine Besorgnisse vor dem unter den Einheimischen herr-
schenden Geiste zu erkennen gegeben. Seine Warnungen waren an
dem Uebermuth und dem Sicherheitsgefühl seiner Landsleute gescheitert.
Um eine Bevölkerung von 180 Millionen Seelen zu beherrschen, be-
durfte es eines großen Heeres, das ganz aus Engländern und Euro-
päern zusammenzusetzen unmöglich war. Unter den 250,000 Sol-
daten, die von der ostindischen Compagnie unterhalten wurden, gab
es (1857) nur 30,000 Briten, die übrigen waren Eingeborene, auf
welche die englischen Officiere keinen moralischen Einfluß ausübten,
indem sie sich um dieselben außerhalb des Dienstes nicht im entfern-
testen bekümmerten. Um so ungestörter konnten die Sipahis (die aus
den Landeseingeborenen gebildete Infanterie) ihre Vorbereitungen zum
Aufstande treffen. Als Vorwand zu demselben diente die Einführung
neuer Patronen, die mit Rinder- oder Schweinefett eingerieben sein
sollten, wovon ersteres die religiösen Gefühle der Hindus, letzteres
die der Mohammedaner beleidigte. Die Erregung moralischen Scrupels
und physischen Abscheus war bei der rohen und abergläubigen Menge
der äußere Hebel zu der Bewegung, deren erste Ursachen aber tieferer
und allgemeinerer Natur waren.
Der Aufstand der einheimischen Truppen brach zuerst in der den-
galischen Armee aus, während die Madras- und Bombayarmee noch
eine Zeit lang ruhig blieb. Am 9. Mai 1857 verweigerten die in
Mirut bei Delhi liegenden Sipahis die Annahme der neuen Patro-
nen, tödteten die englischen Officiere, deren Frauen und Kinder und
zündeten die Kaserne an. Zwei Tage später erhob sich Delhi, die
alte Hauptstadt des mongolischen Reichs. Die Engländer hatten die
Wichtigkeit dieses Centralpunkts übersehen, und es lagen daselbst nur
wenige europäische Truppen. Die Sipahis bemächtigten sich in Delhi
eines Artillerieparks von 150 Kanonen, unermeßlicher Kriegsvorräthe
und eines Schatzes von 2 Mill. Pfd. Sterling. Die englische Be-
satzung ward überwältigt, und die gesammte europäische Bevölkerung,
Männer, Weiber, Kinder, meist unter gräßlichen Martern umgebracht.
Der ehemalige Kaiser oder Großmogul, Akbar, ein Nachkomme Ti-
mur's, der in seinem Palast zu Delhi von einer englischen Pension
lebte, wurde zum rechtmäßigen Beherrscher von Indien ausgerufen.
Da er 92 Jahre alt war, so traten seine Söhne und Enkel für
ihn ein, die sich an den Vorbereitungen zu der Empörung betheiligt
hatten, und, wie wenigstens die Engländer behaupteten, auch an den
begangenen Gräueln nicht schuldlos waren. Gleichzeitig brach der
Aufstand in allen bengalischen Garnisonsstädten aus. Die erfinderi-
sche Grausamkeit des Orientalen übertraf an Menge und Mannich-
faltigkeit der Unthaten alles, was in Europa Unmenschlichkeit und
Verruchtheit in einzelnen Fällen verübt haben mag. Die Gefangenen
und Wehrlosen wurden lebendig verbrannt, in Stücke gehauen, es
wurden ihnen die Augen ausgerissen, die Finger und Zehen langsam
abgeschnitten, die Haut abgezogen, die Frauen wurden öffentlich ge-