1861 -
Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Weber, Georg, Schröer, Tobias Gottfried
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Töchterschule
- Regionen (OPAC): Preußen
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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Die Kanonen blieben ans der Straße liegen. Jeder dachte und sorgte
nur noch für sich. Hunger, Kälte und Müdigkeit rafften allmählich von
Tag zu Tage mehr Menschen als eine Schlacht dahin, und die Straße
von Kaluga bis Smolensk war mit Leichen übersäet. Ney, der in der
Schlacht an der Moskwa Wunder der Tapferkeit gethan hatte, war auch
ans dem Rückzug der Held der französischen Armee. Retten aber konnte
hier Niemand! Ehe noch die Unglücklichen die ersehnte Stadt Smolensk
erreichten, hatten die Meisten die Waffen weggeworfen, die sie nicht mehr
zu tragen vermochten. Aber auch dort waren die Vorräthe ausgeräumt.
Ansteckende Krankheiten brachen ans. Auf jedem Schritte Tod und Ver-
derben, ging der große, fürchterliche Leichenzug, stets von den Russen ge-
trieben und begleitet, weiter. Am 27. November kam der Rest der Armee,
nicht mehr als 40,000 Mann, im schrecklichsten Zustande, in Lumpen ge-
hüllten, wandelnden Leichen ähnlich, an dem Flusse Berezina an. Zwei
Brücken waren geschlagen, auf die von beiden Seiten die Feinde mit ihren
Kanonen Tod und Verderben schleuderten. Unter dem Zudrange der Menge
stürzte die erste ein, so daß Tausende in dem eistreibenden Strome ihr
Grab fanden. Wir wollen die Schilderung dieser Schaudersceuen nicht
weiter verfolgen. Genug, daß von nun an die Leiden an der Bere-
zina der Ausdruck des höchsten Jammers geworden sind, welcher die
Menschen im Kriege überhaupt treffen kann. Die große französische
Armee war aufgelöst. Napoleon, der Alles verloren sah, verließ zu
Smurgonh am 5. December das Heer und eilte mit wenigen Vertrauten
über Dresden nach Frankreich zurück, nachdem er den Oberbefehl seinem
Schwager Murat, König von Neapel, übergeben hatte. Von dem herr-
lichen, glänzenden Heere, welches vor sechs Monaten stolzen Muthes über
den Niemen geschritten, trafen am 14. December an demselben Fluß auf
dem Rückweg noch ein: 400 Mann Infanterie der alten Garde mit Waf-
fen, 600 Mann Kavallerie ohne Pferde und 9 Kanonen, ferner 20 bis
30,000 kranker, elender Bettler, in Lumpen und halbverhungert, dem Tode
im Spital entgegengehend, nachdem sie das nackte Leben dem Eis des
russischen Winters und den Spießen der Kosaken entrungen hatten, das
war Alles, was aus diesem fürchterlichsten aller Feldzüge als Rest der
großen Armee vorhanden blieb. Napoleon aber sagte: „Eine verlorene
Kampagne! Was ist das? Das läßt sich ersetzen."
Es gehörte kein wunderbarer und übermäßiger Mnth dazu, daß
Deutschlaud sich jetzt ermannte, und doch war es eine große That, daß
der preußische General Jork, welcher sich bei der Armee befand, die nörd-
lich gegen Petersburg ziehen sollte und also nicht von dem Schicksale
der großen Armee berührt wurde, im December auf seine eigene Gefahr
sich von den Franzosen trennte. Doppelt wichtig und bedeutungsvoll war
dieses Ereigniß, da es von einem Manne kam, welcher, als ächter Soldat
nach Friedrichs des Großen Schule, Gehorsam und Subordination als erste
Soldatenpflicht ansah. „Ich lege meinen Kopf zu den Füßen Eurer Ma-