1861 -
Leipzig
: Brandstetter
- Autor: Weber, Georg, Schröer, Tobias Gottfried
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Töchterschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mädchenschule
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Töchterschule
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Alle Zeiten
- Geschlecht (WdK): Mädchen
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Rechtsformen nach Willkühr diejenigen, welche ihm im Wege standen, an
Gut, Leib und Leben bestrafen ließ. Rom schien zu jener Zeit zehn Kö-
nige zu besitzen, deren ein Jeder sich die ganze königliche Gewalt anzu-
maßen trachtete, Jeder die Ehre der zwölf Liktoren mit Ruthen und Beil
für sich in Anspruch nahm, so daß im Ganzen einhundert zwanzig solcher
königlicher Boten in der Stadt ihres Amtes warteten. Jede Ungerechtig-
keit war den allmächtigen Decemvirn gestattet, die ihrerseits nun auch die
Uebergriffe ihrer Standesgenossen nicht nur duldeten, sondern begünstigten,
um ihrer eigenen Macht sicher zu sein. Die Zeiten des letzten Tarqui-
nius schienen zurückzukehren und sein klägliches Ende ward von den über-
müthigen Machthabern nicht als Mahnung erkannt.
Ein beliebtes Auskunftsmittel des Claudius war es, diejenigen Bür-
ger, welche er wegen ihrer Gesinnung und wegen ihres Einflusses zu
fürchten hatte, bei feindlichen Ueberfällen an den gefährlichsten Stellen ab-
sichtlich dem Untergange entgegen zu senden. Auf diese Weise ward einer
der edelsten und volksfrcundlichsten Patricier, Siccius Dentatus, be-
seitigt, welchen Claudius auf einem Streifzuge sogar durch seine eigenen
Leute ermorden ließ.
Wurde auf solche Weise das Heer durch die Frevelthaten jenes rohen
Patriciers beunruhigt, so war dies nicht weniger in Rom der Fall, wo,
wie unter den Tarquiniern, die Familienehre, der häusliche Heerd nicht
mehr sicher war vor Gewaltthat und Beschimpfung. — Ein Frevel, ähn-
lich wie der, durch welchen Septus Tarquinius einst der Lucretia den Tod
brachte und zur Vertreibung seiner Familie und Aufhebung der Königs-
würde Veranlassung gab, machte das Maaß voll und befreite Rom von
der verhaßten Zwingherrschaft. Um sich einer schönen Jungfrau, der Vir-
ginia, Tochter eines angesehenen Plebejerführers und Verlobte des Volks-
tribuns Jcilius, zu bemächtigen, beredete der Decemvir einen seiner
Klienten, das Mädchen für eine ihm zugehörige entlaufene Sklavin aus-
zugeben und gerichtlich zurückzufordern. Als Claudius in öffentlicher
Gerichtssitzung das Urtheil sprach, welches die edle Jungfrau in seine Ge-
walt bringen sollte, ergriff der indeß aus dem Lager herbeigerufene Vater
ein Messer aus einer in der Nähe befindlichen Fleischerbude und stieß es
seiner Tochter in's Herz mit den Worten: „Nur so kann ich, liebes Kind,
dir deine Ehre und Freiheit retten!" Der Aufruhr des Volkes brach jetzt
unwiderstehlich los. Erschrocken wichen die Gerichtsdiener zurück; die Beile
wurden ihren Händen entrissen, die Ruthenbündel in Stücken zerbrochen.
Appius Claudius, der vergeblich zu sprechen versuchte, verhüllte das Haupt
und entfloh aus der Versammlung. Draußen aber vor den Thoren ver-
ließ das Heer seine Führer und lagerte sich zum zweiten Male auf dem
Heiligen Berge in entschlossener Haltung, bereit, gegen die Stadt anzu-
rücken. Jetzt beschloß der Senat die Aussöhnung um jeden Preis zu
erringen. Wie einst Menenius Agrippa, so wurden jetzt die bei dem