1. Bd. 2
- S. 162
1838 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Rotteck, Karl von
- Auflagennummer (WdK): 13
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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Viertes Kap. Römische Geschichte.
Gegen die sieggewohnten Legionen hielt sich die hilflose Stadt bis in's
dritte Jahr. Mehrere consularische Heere wurden geschlagen, cs schien
die Kraft der Belagerten täglich zu wachsen; fast zagten die Römer.
Da ernannten sie den jungen Scipio Aemilianus (Paul Aemil's
Sohn, aber durch Adoption des afrikanischen Seipio Enkel)
zum Consul, einen der vortrefflichsten Römer, seinen Ahnen an Tugend
und Tapferkeit gleich, über ihnen an Wissenschaft und feiner Sitte,
einen menschenfreundlichen Helden, und der früher gegen Cato laut
zu Gunsten der Karthager gesprochen. Aber jezt hielt er für Pflicht,
zu vollziehen, was der Senat und das Volk beschlossen, und er that
cs, seines Namens würdig. Die Legionen erhielten neuen Muth durch
seinen Anblick, Kriegszncht durch seine Strenge, durch seinen Genius
den Sieg. Die Kartbager thaten mehr, als glaublich ist. Der Ha-
fen war durch einen Damm gesperrt; wunderbar schnell wurde eine
neue Mündung gegraben und der Feind durch eine neue Flotte geschreckt.
Zwei Mauern waren gefallen, die dritte hielt. Das Heer vor der
Stadt wurde geschlagen, alle Zufuhr gehemmt, man trozte dem Hun-
ger, wie den Schrecken des Krieges. Endlich drang Scipio bei
Nacht in den leztcn Hafen; der untere Theit der Stadt wurde genom-
men, die obere Stadt und das Schloß (B yrsa) ergaben sich nicht. Da
stürmte Scipio sechs Tage und sechs Nächte lang; in allen Straßen,
Plazen, Häusern floß Blut. Unermüdet, furchtbar stritten die aus-
gehungerten Bürger gegen immer frische Truppen, bis die leztcn
Kräfte schwanden. Am siebenten Tage baten einige Abgeordnete um
Gnade. Gerne hätte Scipio sie allen ertheitt. Aber nur 50,000
Menschen ans einer Stadt, welche siebenmal hunderttausend zählte,
nahmen sie an, und zogen in jammervoller Gestalt nach Scipio's
Lager. Die klebrigen, in wilder Verzweiflung, stritten fort, zündeten
die Stadt an, und tödtetcn sich selbst in ihren Häusern, Tempeln, über
den Gräbern der Väter. Schauderhaft groß war die That eines Wei-
des, H a s dru ba l' s Gattin. Ihr Gatte nahm Gnade an. Sie strafte
ihn durch Wort und Blick, und, ihre Kinder umarmend, stürzte sie
mit ihnen sich von der Burg herab in die Flamme. Siebenzehn Tage
brannte die herrliche, übergroße, unglückliche Stadt; die Römer, auf
Befehl des Senats, vollendeten den Ruin. Aber mit erschüttertem Ge-
müthe sah Scipio sie in Asche sinken. Vergangenheit und Zukunft
standen vor ihm, und es gingen aus seinem Munde Homerys den-
tungsvolle Worte: „Kommen wird noch ein Tag, da die heilige Troja
wird fallen, Priamos fallen und Priamos Volk, des Lanzenberühmten
So verschwand von der Erde, nachdem cs hundert und zwanzig
Jahre mit Rom gewaltig gestritten, das weitherrschende, dem Handel