1. Bd. 2
- S. 278
1838 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Rotteck, Karl von
- Auflagennummer (WdK): 13
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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Zweites Kap. Religion.
Erzählungen des Livius und Plutarch lesen (welche wenigstens
den Ton der betreffenden Zeiten, bei Plutarch auch wohl seine eigene
Sinnesweise, schildern), wenn wir selbst einen Cicero von einem
Traume, als einer von Gott eingegebenen Ahnung, sprechen hören
(de divin. I. 28.); so können wir nicht verkennen, daß nicht nur Fröm-
migkeit, sondern abergläubische Gcmüthsart und meist sklavische
Götterfurcht ein Hanptzug des Römercharakters bei Großen und Kleinen
gewesen.
Trefflich hatten die ersten Gründer des Staates sowohl, als seine
folgenden Häupter, diesen religiösen Sinn genüzt und gcpffcgt. Sie
hatten ihn zu einer Hauptstüze der Verfassung, znm Triebwerke des
Gehorsams und des patriotischen Eifers, znm Erhalter der politischen
Tugend gemacht. Die Religion war das kostbarste Staatseigen-
t h u m; sie antasten hieß gegen die Majestät des Volkes sündigen (*).
Hinwieder wurde für Gottlosigkeit gehalten, die Fahnen zu verlassen,
den Magistraten nicht zu gehorchen, gegen den Vorzug edler Ge-
schlechter zu kämpfen. Ohne diese heilige Waffe wären die Patrizier
viel früher und vollständiger der Plebs erlegen. Alle schwereren Pflich-
ten, alle härteren Opfer wurden den Bürgern im Namen der Götter
aufgelegt; alle Tugenden, an deren Erhaltung dem Staate lag,
wurden zu Religionspflichten gestempelt; jedes Widerstreben wurde
durch Autorität des Himmels gedämpft.
Daher konnten die griechischen Götterfabeln, in so fern sie blos
Dichterphantasie und theils von belustigender, theils von sitten-
verderblicher Wirkung waren, in Rom keinen Eingang finden. Hier
wurde nur ausgenommen, was p o li t isch - nü z ti ch schien. Der Charak-
ter der römischen Religion blieb ernst und feierlich; sie reichte den Aus-
schweifungen weder Deckmantel, noch Entschuldigung dar, sondern
schärfte die Gebote der Sittlichkeit und des Rechts durch eine höhere
Sanktion ein. Jedoch nicht des öffentlichen Rechts; denn da sie
Staatsmaschine und Dienstmagd der Politik war, so gebrauchte
man sie (bei Kriegserklärungen, Friedensschlüssen und Bündnissen
waren Priester, die Fccialen, nöthig) zur Beschwichtigung des Ge-
wissens, zur Aufrichtung des Selbstvertrauens in den abscheulichsten
Kriegen und zur Beschönigung der gröbsten Attentate gegen das Völ-
kerrecht.
Aus demselben Grllnde, daß die Religion in Rom mehr znm Besten
des Staates, als jenem der Bürger vorhanden war, floß auch
die Unbestimmtheit ihrer Unsterblichkeitslehre. Es scheint die-
(') Auch die Sacra prirat« (Hausgottesdienst) mußten vom Volte gebilligt seyn.