1. Bd. 2
- S. 302
1838 -
Freiburg im Breisgau
: Herder
- Autor: Rotteck, Karl von
- Auflagennummer (WdK): 13
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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Drittes Kap. Kunst und Wissenschaft.
bei erst kurz eröffnetcr Laufbahn alle Kraft des Genies die Beschrän,
kung nicht heben, di< in dem Mangel großer Vorarbeiten vervoll-
kommneter Instrumente, wohlberechneter Anstalten und in anderen, so-
wohl literarischen, als auch religiösen und politischen, Verhältnissen
lag. Die Fortschritte der Griechen sind unvergleichbar geringer, als
jene der neueren Zeit.
Bis auf Aristoteles waren die einzelnen Disciplinen weder
unter sich, noch von der eigentlichen Philosophie gehörig gesondert; die
Gelehrten — welche von Pythagoras an überhaupt den Namen
der Philosophen führten — trieben meistens alle zugleich. So
wurde einerseits der betrachtende Geist durch die Menge ungleichar-
tiger Gegenstände zerstreut; anderseits, bei der Behandlung, das Ideale
mit dem Realen, zum Nachtheile beiderlei Erkenntniß, vielfältig ver-
mischt. Die Wissenschaften hoben sich nur wenig, so lange dieses
Verhältniß bestand.
Doch wurde durch einzelne große Männer wenigstens die Bahn eröff-
net; es wurden Materialien zum Baue gesammelt, und der Grund gelegt.
Um die reine Mathe sis haben sich Pythagoras und Tha>
les, auch des Leztercn Schüler Anarimander (der erste Verfer-
tiger von Landkarten) und Ana rag oras (von welchem unten ein
Mehreres) verdient gemacht. Aber Pythagoras entstellte die Wissenschaft
der Zahlen durch mystischen Gebrauch; und die wahre Vervollkomm-
nung der Geometrie blieb der platonischen Schule Vorbehalten.
Dagegen wurde die Astronomie durch den Fleiß der jonischen,
und noch mehr der pythagoräischen Schule, gehoben. T ha les berech-
nete eine Sonnenfinsterniß; Pythagoras aber erkannte das wahre
Weltsystem zum Theil bestimmt, zum Theil durch kühne Muth-
maßnngcn; wiewohl solche Lehre, als dem Zeugniß der Sinne zu sehr
widerstrebend, außer dem Kreise seiner Schule keinen Eingang fand. Die
I a h r es b e r e chn u n g wurde nach einander durch Thatcs, M c to n
und Kal lip p us verbessert (hievon und von den späteren Fortschritten
hierin s. I. B. Einleit. §. 50.), zur Messung der kleineren Zeittheile aber
hatten schon die Orientalen Sonnen - und Wasseruhren erfunden.
Mechanik, Hydrostatik, Hydraulik und noch mehr die op-
tischen Wissenschaften blieben vvrjezt noch in- der Kindheit., So auch
im Ganzen genommen die Naturwissenschaften. Noch war der
Gesichtskreis zu sehr beschränkt. Die Produkte ferner Länder und Zonen
fehlten dem vergleichenden Beobachter, und man hatte keine Vorrich-
tungen zu Experimenten. Aus wenigen und mangelhaften Daten ließ
sich keine reale Wissenschaft bauen; spekulative Theorieen, die den
Mangel ersezen sollten, verwandelten die Unwissenheit in Irrthum,