1864 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Geschlecht (WdK): Jungen
614 94. Der National-Convent seit der Hinrichtung Ludwig's Xvi.
24 Schuldige ausliefere". „Man liefere uns alle aus!" schrie die ihn
umgebende Meuterer-Rotte. Er ließ sofort mehrere Kanonen auf den
Convent richten. Niemand wagte es mehr, sich der Verhaftung der Ge-
ächteten zu widersetzen; Marat trat unter sie und dictirte das Schick-
sal ihrer Mitglieder. Nachdem die Liste geschlossen, wurde ein Ver-
hafts-Decret gegeben, an dessen Beschlüsse die Hälfte der Versammlung
keinen Theil nahm. Man gab den Geächteten Hausarrest, und stellte
sie unter den Schutz des Volkes! Der Rest des Convents bekam nun
für den Augenblick Luft; die Menge verlor sich; aber die Freiheit und
wirkliche Autorität des Convents war von diesem Augenblicke an ver-
nichtet.
Verschieden, aber fast durchaus traurig, war das Schicksal der übri-
gen Girondisten. Mehrere waren schon vor der letzten Katastophe ent-
flohen; anderen, selbst schon verhafteten Mitgliedern, gelang eine augen-
blickliche Rettung. So entkamen Barbaroux, Lanjuinais, Petion und
Andere nach der Normandie und gelangten nach Caen, der Hauptstadt
des Departements Calvados, wo sie das Volk zu den Waffen riefen,
die Schmach und die tyrannische Verletzung der Volks-Repräsentation
zu rächen.
In diese Zeit gehört eine That, die der Absicht nach eine der edelsten
Aufopferungen der reinsten Vaterlandsliebe, der Wirklichkeit nach aber
ein schwärmerischer Jrrthum war. Marat hatte schon lange Mord
aller in seinen Augen Verdächtigen gepredigt; er war der Götze der
rohen Pöbelmasse von Paris und der Anführer gedungener Meuchel-
mörder; er hatte hauptsächlich die Insurrection vom 2. Juni geleitet
und vollendet; er hatte die Proscription und Verhaftung der geächteten
Girondisten dictirt; was war natürlicher, als daß man ihn, besonders
in der Ferne, in den Provinzen, als den Haupturheber der zahlreichen
Leiden ansah, die jetzt auf dem unglücklichen Frankreich lasteten? Ein
hochherziges Mädchen, die Tochter eines Edelmannes, faßte, von der
reinsten Freiheitsliebe beseelt, den Entschluß, ihr Vaterland von diesem
Ungeheuer zu befreien. Charlotte Corday d'arm ans hatte aus
der Lectüre der Geschichte der Vorzeit einen echt republikanischen Geist
in sich genährt und einen tiefen Haß gegen alle Unterdrückung einge-
sogen. Mucius Scävola und andere Helden des Alterthums entflammten
ihre Seele; ihre Aufopferungen schienen ihr neidenswerth. Nächstdem
soll ihr Entschluß auch durch den Schmerz der Liebe gefördert worden
sein: sie soll nämlich einen jungen Officier von der Garnison von
Caen geliebt haben, der, als Verschwörer angeklagt, auf Marat's Be-
trieb von bezahlten Bösewichtern ermordet wurde. Wie dem auch sei,
sie verließ ihre stille Heimat, kam am 12. Juli 1793 in Paris an,
begab sich zweimal in Marat's Wohnung, ohne vorgelassen zu werden. Da
schrieb sie noch denselben Abend an ihn: „Bürger! so eben komme ich
von Caen. Ich habe Ihnen wichtige Geheimnisse zu entdecken, und
werde Ihnen Gelegenheit geben, Frankreich einen Dienst zu leisten."
Am folgenden Morgen kaufte sie erst einen Dolch im Palais Royal