1861 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geschichtsschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Weltgeschichte
- Inhalt: Zeit: Antike
- Geschlecht (WdK): Jungen
718
Xi. Die Römer.
Stadt aus freien Stücken verlassen haben, weil er seine schmählichen
Lüste vor den Augen der Menge verbergen wollte; er zog zuerst
eine Zeitlang in Campanien umher, und begab sich dann nach der Insel
Capri, die ihm durch ihren milden Winter und kühlen Sommer einen
heiteren Genuß darbot, und ihn außerdem durch die Unzugänglichkeit
ihrer Küsten gegen jede Nachstellung zu sichern schien. Hier überließ
er sich den schändlichsten, unnatürlichsten Lüsten, während Sejanus als
sein Stellvertreter in Rom die Ausführung der grausamen kaiserlichen
Befehle besorgte, und auf eben so grausame Weise für die Behauptung
seiner eigenen Macht thätig war. Er brachte es zuletzt dahin, daß,
wie ein Geschichtschreiber des Alterthums sich ausdrückt, er selbst der
Kaiser, Tiberius aber nur der Beherrscher der Insel Capri zu sein
schien. Schon fühlte sich Sejanus so mächtig, daß er daran dachte,
sich selbst zum Kaiser aufzuwerfen, schon fand man in den Tempeln,
auf den öffentlichen Plätzen und in vielen Privathüusern seine Bildsäule
nebeu denen der regierenden Familie ausgestellt, als Tiberius sich plötz-
lich von ihm wandte. Der Kaiser, der in den letzten Jahren seines
Lebens gewöhnlich betrunken war, sah entweder einmal in einem nüch-
ternen Augenblicke selbst ein, wohin es gekommen sei, oder er ward
durch Sejanus' Bitte, eine kaiserliche Prinzessin heirathen zu dürfen,
auf die eigentlichen Absichten desselben aufmerksam gemacht, oder die
Witwe seines Bruders Drusus warnte ihn durch ein Billet, welches
sie ihm zustellen zu lassen wußte. Genug, Tiberius beschloß plötzlich,
seinen bisherigen Vertrauten und allmächtigen Minister zu verderben.
Bei der Ausführung dieses Beschlusses bot er seine ganze Verstellungs-
kunst auf. Da nämlich das Tribunal durch die Uebertragung der
Volks-Souverainetät an den Kaiser eine viel größere Bedeutung als
früher erhalten hatte, so wurde Sejanus durch die Lüge, daß ihm der
Senat auf Tiberius' Befehl diese Würde übertragen solle, in den Se-
nat gelockt. Tiberius' Schreiben an den Senat war so abgefaßt, daß
zuerst eine fremde Sache, dann ein geringer Tadel gegen Sejanus, dann
wieder etwas Anderes und erst ganz am Ende der Befehl zu seiner
Verhaftung ausgesprochen war. Seine Hinrichtung war zwar im Briefe
des Kaisers aus Furcht vor einer Empörung der Garden nicht erwähnt
worden, allein die Senatoren, welche Tiberius' Willen sehr wohl ver-
standen, ließen dessen ungeachtet Sejanus sogleich umbringen (31 n. Ehr.).
.Seit Sejanus' Sturze folgte eine Grausamkeit auf die andere.
Mißtrauen, Habgier und tiefe Verachtung der Menschen beherrschten
die Seele des Kaisers, und seine Regierung ward immer mehr bloß
auf rohe Gewalt, das heißt auf Militärmacht, auf Furcht und Schrecken
gegründet. Dabei blieb er, obgleich er über 70 Jahre alt war, dem
Trunk und allen Lüsten ausgelassener Jünglinge ergeben. Als er end-
lich im 78. Lebensjahre erkrankte und den Tod herannahen sah, suchte
er seinen Zustand sorgfältig zu verbergen. Er stellte sich gesund und
kräftig, hielt Jagden und reis'te in Campanien und am Gestade des
Meeres umher, wie wenn er nach Rom zurückkehren wollte. Auf dieser