1855 -
Mainz
: Kunze
- Autor: Schacht, Theodor
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Mittel-Europa.
alten Burg hinauf zu gehen, wo die an Kirchen und Klöstern reiche Stadt und
die Umgegend bis zu den Karpathen hin den herrlichsten Anblick gewahren. Die
Burg selbst, früher in königlichem Glanz, heutzutag eine Kaserne und verunstaltet,
ist ein Bild vom Schicksale Polens. Wer die öffentlichen Plätze und sehenswer-
then Banwerke durchwandert, trifft überall auf denselben Gegensatz der Gegen-
wart und Vergangenheit, aber auch auf Zeugnisse von der Unverwüstlichkeit des
polnischen Nationalkarakters. Am meisten fühlt man sich angezogen von der ehr-
würdigen Kathedrale oder Schloßkirche, und von dem Koscziuskoberg. In der
Kathedrale erinnert eine Reihe von Grabmälern und Bildnissen an die Ge-
schichte der Könige und Helden, besonders an Johann Sobiesky, Thaddäus
Kosczinsko und Jos. Poniatowskv, während inmitten des Doms der silberne
Sarg des Märtyrers Stanislaus, als Schutzheiligen des Reichs, von silbernen
Engeln emporgehoben wird. Auch zwei eigentliche Kunstwerke schmücken den
Tempel, ein segnender Christus und ein Graf Potocki, der vor Moskau fiel, beide
aus Marmor und von Thorwaldsens Hand. Noch bedeutsamer ist das Kos-
czinsko - D e n km a l, draußen vor der Stadt. Es ist ein Berg, aber nicht von
der Natur, sondern von Menschenhand geschaffen, ein kolossales Hünengrab, das
grün beraset, mit Schneckeuwindungen, fast zu der Höhe von 300 Fuß aufsteigt.
Das Volk, in seiner Verehrung des Helven, hat mit Spaten und Karren ihm
dieses Denkmal aufgethürmt, und zwar das Volk ohne Unterschied des Standes
und Alters; Greise wie Jünglinge, Senatoren, Bürger und Bauern waren
daran bethätigt. Ans allen Woiwodschaften Polens ward etwas Erde beige-
steuert, selbst aus Amerika, wo Kosczinsko unter Washington seine Kriegsschule
gemacht, und aus der Schweizerstadt Solothurn, wo er gestorben. Das muß
man sagen: Was auch der Pole verschuldet hat, seine Vaterlandsliebe kann
manchem Volke zum Muster dienen.
Von Krakau ostwärts, etwa 40 M. entfernt, liegt Lemberg mit 72,000 E.
vornehmster Ort im südpolnischen Lande Galicien oder Halicz, das 1773 bei der
ersten Theilung Polens an Oestreich fiel. Unter östreichischem Scepter hat die
Stadt au Bevölkerung und Wohlstand sehr gewonnen, sie ist Sitz des Gouver-
neurs und 3 geistlicher Oberhirten, nämlich eines griechischen, lateinischen und
armenischen Bischofs. Die jüdische Gemeinde ist groß, wie überall in Polen,
sie zählt 21,000, die zu Krakau 13,000, die zu Warschau an 40,000. — Fast
eben so weit von Krakau wie Lemberg, aber nordwärts, liegt Warschau, am
linken Ufer der Weichsel, mit der Vorstadt Praga gegenüber durch eine Schiff-
brücke verbunden. Einwohnerzahl 157,000. Die Bauart ist austallend gemischt;
neben steinernen Häusern und prächtigen Palästen stehen noch elende Hütten.
Das gleiche bemerkt man im ganzen Polenlande, hin und wieder stattliche Land-
güter zwischen den erbärmlichsten Dörfern. Warschau hat nicht den Trost, unter
Oestreich oder Preußen zu stehen; es ist russisch und wird seit dem letzten Kampfe
von 1831 durch eine neugebaute Citadelle im Zaum gehalten.
§. 3. Der kleine deutsche Theil.
a) Geschichtliches. — In früheren Jahrhunderten, ehe Litthauen am
Niemen und Polen an der Weichsel ein gemeinsames Reich ausmachten, erstreckte