1855 -
Mainz
: Kunze
- Autor: Schacht, Theodor
- Auflagennummer (WdK): 6
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
D1' e Alpen.
157
sich zu gleicher Zeit das Recht, sich selbst zu regieren, und waren stolz auf
den Titel: kaiserlich freie Reichsstadt. Selbst Dörfer gabs, wo die
Bauerschaft ähnliche Freiheiten errang, oder sie aus altdeutscher Zeit, wo jeder
Landbesitzer frei war, sich erhalten hatte. So löste sich Pas deutsche Reich
in eine bunte Menge kleiner Staaten auf, nämlich Herzog- u. Fürsten-
thümer, Grafschaften, Reichsritterschaften, Erzbisthümer, Bis -
thümer, gefürstete Abteien, Reichsstädte und Reichsdörfer. Die
angesehensten der geistlichen und weltlichen Fürsten — es waren ihrer Sieben
— ernannten den jedesmaligen Kaiser, wozu sie irgend einen regierenden Herrn
erwählten, gleichviel ob einen mächtigen Herzog, oder nur einen Grafen, der
wenig Land und Leute besaß. Der von den 7 Kurfürsten d. i. Wahlfürsten
gewählte Kaiser hatte dann freilich stolze Titel und hohe äußere Ehre, und
galt in Europa unter allen Königen für den Ersten; im Grunde war aber seine
Macht nicht viel größer, als sein Herzogthum oder seine Grafschaft, die er von
seineni Vater ererbt hakte. Wollte er zu irgend einem Heerzuge, zum Besten
des ganzen Reichs, vielleicht zur Vertheidigung desselben gegen Angriffe der
Nachbarn, die Unterstützung des Volks haben, so mußte er erst einen Reichstag
ansagen, wo sämmtliche geistliche und weltliche Fürsten und Boten der freien
Städte und Reichsritterschaft erschienen. Konnten sich diese nicht verständigen
uns einigen, so ward nichts Gemeinsames beschlossen und jeder Fürst und jede
Reichsstadt that nach Gutdünken. Einzelne schlossen auch unter einander Bünd-
nisse und führten Kriege ohne den Kaiser zu fragen. Im hochrheinischen Lande
thaten sich sogar Landleute, Alpenhirten und Bürger zusammen und errichteten
eine Eidgenossenschaft, die Schweizerische genannt. Sie nahm ihren An-
fang 1308, und besteht noch. Wer kennt nicht die 3 Männer im Grütli und
den Wilhelm Tell!
Nie zwar sind die Deutschen wieder unter eine einzige Regierung gekom-
men; dennoch trotz so vieler Herrn erhielten sie, meist unbezwungen und ange-
sehen , sich neben den übrigen Völkern Europas bis auf den heutigen Tag.
Wenn vor 800 Jahren, wo unser gesammtes Vaterland ein einig großes Reich
war, niemand vergaß, sich noch besonders einen Baier, Thüringer, Lothringer
u. s. w. zu nennen, so sollte auch heut zu Tage jeder Sachse, Preuße, Tyroler,
Bade, Baier, Meklenburger u. s. w. wissen, daß er zugleich ein Deutscher ist. Ein
starkes Baud fesselt uns alle aneinander, nämlich gemeinsame Abkunft,
vaterländische Sitte und Denkart und die gleiche eigenthümliche
Sprache, die vom Gotthard bis zur Nord- und Ostsee geredet wird, und
eine der schönsten Sprachen ist, die je durch Schriftsteller aller Art, durch
Dichter, Redner, Geschichtschreiber und Philosophen gebildet ward.