1858 -
Osnabrück
: Rackhorst
- Hrsg.: Lansing, Franz, ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
56
Iheils als breiter Eisstrom über alle Hochrücken herabwallt, oft
mühsam durch schmale Thäler sich drängt und die verschiedenen
Zuflüsse aufnimmt, in einzelnen Stromarmen aber tief nach den
untern Thalbuchten abfließt, „wo er in das saftige Grün der
Wiesen phantastisch, wie durch ein Zauberwort festgebannt, stumm
und starr hereinhängt." Die Gletscher, die insofern große Wohl-
thäter des organischen Lebens sind und in dem großen Haus-
halte der Natur eine sehr bedeutungsvolle Stellung einnehmen,
als sie die unversiegbaren Quellorte und Vorrathskammern un-
zählbarer Bäche und Flüsse sind, und die größten Ströme Euro-
pas, der Rhein, die Donau, der Po, die Rhone, durch die
Alpengletscher mittelbar oder unmittelbar gespeist werden —
hemmen in unmittelbarer Nähe das organische Leben weit mehr,
als der Schnee. „Dieser schützt und bewahrt tausendfältig den
Keim der Vegetation, den Odem des thierischen Lebens, der
Gletscher vernichtet beides. Er wärmt den Boden nicht, er
sägt und reibt die Pflanzendecke ab, kaum daß er ihr Gesäme
in die Tiefe trägt . . . Alles organische Leben flieht ihn bis
auf wenige wunderliche Ausnahmen scheu wie das Revier des
Todes. Die Gemse, der Steinbock weicht ihm aus, bis die Todes-
angst sie über ihn hinjagt; der Vogel findet keine Beute auf
ihm; selbst das Infect meidet den blumenlosen Schutt und ewi-
gen Frost der Eismeere mit alleiniger Ausnahme des wunder-
baren Gletscherflohs." Jndeß scheint sich dieser nachtheilige Ein-
fluß des Gletschers auf das organische Leben nicht über seine
Grenzen auszndehnen, indem schon an seinen Ufern Pflanze und
Thier fröhlich gedeihen und rings um den starren Eisstrom
Gräser und Kräuter, Fichten und Buchen in der Berg- und
Alpenregion grünen. Wenngleich die Nähe so umfangreicher Eis-
massen die Bodenwärme schwächt, so wirkt doch andererseits die
Gletschernähe und die dadurch erzeugte Frische und Feuchtigkeit
der Luft in tiefem Gegenden offenbar vorteilhaft auf die Uep-
pigkeit des Pflanzenwuchses.
In mehrern Hochgebirgen der Erde, deren Gipfel die Schnee-
grenze weit überragen, hat man bis jetzt wahre Gletscher noch
nicht angetroffen. Zu ihrer Entstehung scheinen, außer der zur
Ansammlung eines nie ausgehenden Schneevorraths nöthigen
Höhe des Gebirges, auch gewisse Oberflächen- und Bodenverhält-
nisse erforderlich zu sein. Tief eingeschnittene Thäler und Schluch-
ten sind ihrer Entstehung besonders günstig, der gewöhnliche
Alpenkalk, sowie die den Strahlen der Sonne sehr ausgesetzte
und in der Regel sehr steile Südabdachung der Alpen dagegen