1858 -
Osnabrück
: Rackhorst
- Hrsg.: Lansing, Franz, ,
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Gymnasium
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 3 – Sekundarstufe 2, Klassen 9/10/11 – 12/13
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Völkerkunde?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Es war ein feierliches Erwachen am ersten Morgen, der
mich in Jerusalem begrüßte. Kaum graute der Tag, so zitterte
meine Seele schon vor Erwartung dessen, was sie sehen sollte.
Nur ein paar Schritte noch — und wir treten in die Grabes-
kirche. Fast bangte mir, festen Fußes aufzutreten, und ich wußte,
warum der Prophet, als sein großer Beruf ihn in die Nähe
Gottes riß, die Füße entblößte, ehe er dem Heiligsten nahte.
Zu Christi Zeit lag diese Stätte außerhalb der Stadtmauern;
doch haben sich dieselben seitdem erweitert und umschließen nun
den heiligen Ort. Kaiser Hadrian hatte aus der Stätte der Kreu-
zigung einen heidnischen Tempel aufführen lassen, um den Wall-
fahrten der verhaßten Christen ein Ende zu machen, allein eben
dadurch ward sie im bleibenden Gedächtniß der Menschheit er-
halten und ohne Schwierigkeit konnte die kaiserliche Pilgerin He-
lena sie wiederfinden. Ja am Fuße des Berges fand man unter
dem hinweggeräumten Schutte die Grotte des heiligen Grabes,
ganz wie die Sage der früheren Menschenalter sie beschrieben.
Bald erhoben sich auf der ganzen Stätte christliche Kapellen, und
obwohl dieselben durch Feuer und alle jene kriegerischen Ereig-
nisse, welche über Jerusalem hereingebrochen sind, oftmals zerstört
wurden, so verband man die einzelnen heiligen Orte des Grabes,
der Kreuzigung und der Kreuzauffindung unter einem Gebäude
bereits 1048, und als dasselbe 1808 vom Feuer zum größten
Theile verwüstet ward, so ward es schon im folgenden Jahre,
meist durch Rußland, wiederhergestellt. Die verschiedensten christ-
lichen Parteien haben sich in die Räume des hehren Heiligthums
getheilt; doch ist dasselbe leider nur zu oft eine Stätte des
ärgerlichsten Streites, da jede Partei Ansprüche auf der anderen
Eigenthum erhebt, so daß nicht selten die türkische Besatzung die
Streitenden mit Gewalt auseinandertreiben muß. Diesen Schieds-
richtern begegnen wir auch gleich am Eingänge, wie sie in einer
großen Mauernische auf Teppichen und Polstern kauernd aus
langen Pfeifen Taback rauchen und Kaffee schlürfen. Ein groß-
artiger Rundbau mit zwei Stockwerken von Bogengängen, welche
Gebetsplätze für verschiedene Confessionen enthalten, erhebt sich
nun. Im Mittelpunkte dieses Gebäudes, gerade unter der hohen
Kuppel, steht eine zweite kleinere Kirche, das Vorbild der grö-
ßeren, die Kapelle des heiligen Grabes mit der engen Grabes-
höhle. Ohne daß ich wußte, wie mir geschah, war ich aus dem
Grabesmysterium herausgetreten und stand auf der Terrasse der
Kirche.
Da lag sie vor mir, die Stadt der heiligen Vorzeit, wie