1. Bd. 1
- S. 447
1859 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
130. Die Insel Rügen.
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Hochmuthes für alle Zeiten das Maul schief stehen. Vielleicht schreibt
einmal ein Volkspoct au der Ostsee einen Reineke Fuchs, der in der
Meerestiefe seine Ränke und Schliche entfaltet, und Kaulbach zeichnet
die Charakterbilder der menschlich-närrischen Fische dazu.
Selbst die Poesie des volksthümlichen Sagenschatzes hat hier ihre
lautersten Heiligthümer in die Tiefe des Meeres versenkt. Der Nibe-
lungenhort dieser Ostsee-Insulaner ist Bincta, die versunkene Stadt an
der Küste von Usedom, das Traumbild unter den goldglitzernden Was-
serwogen. Wisby auf Gothland, die märchenhafte Trümmerstadt, das
skandinavische Pompeji, ist gleichsam ein über den Wellen stehen geblie-
benes Vineta. Auf Arcona, der am weitesten in die offene See vor-
geschobenen Rügen'schen Inselspitze, stand der Tempel Swantowit's, des
großen Slawcngottcs. Der Punkt, wo das Meer, das „alte, ewige,
heilige Meer", ringsum brandet, wo die schmale Spitze Landes dem,
der lange sinnend über die Flut hinausschaut, unter den Füßen schwindet,
daß er mitten in den Wogen zu stehen vermeint — dieser Punkt und
kein anderer mußte das Mekka der Insel sein. Mir ist die tief-poetische
Erzählung des Evangeliums, wie Christus ans dem Meere wandelt,
nie großartiger und so ganz in ihrer anschaulichen und plastischen Fülle
erschienen, als hier aus der Tempelstätte des Swantowit. Sapo Gram-
maticus beschreibt den vierköpfigen Götzen Swantowit. Die Gesichts-
züge waren ernst und tiefsinnig, der Bart herabhangend, die Haare
nach Art der Wenden gescheitelt. Das gestrählt herabhangende Haar
zeichnet heute noch die Fischer auf Rügen aus. Statt die Haare ans
der Stirn zu streichen, lassen sie dieselben niederfallen, wie man wohl
bei Meergöttern die Blätter des Schitfkranzes über die Stirne nieder-
hangend malt. Die Sitte ist wiederum, wie fast alles auf dieser
Insel, vom Meere dictirt; Wasser und Wind sind die einzigen Haar
kräusler dieser Leute.
Der ganze Entwicklungsproceß von Rügen ruht gleichsam auf einem
fortwährend ausgebeuteten Strandrecht. Nicht bloß „Bildung" wirft
den Küstenbewohnern die See aus, nicht bloß Muscheln und verwesen-
den Seetang, den die Bauern zu wirtschaftlichen Zwecken heimfahren,
nicht bloß Quallen und vornehme Badegäste: auch die Granitblöckc, mit
denen die Kirchen gefundamentet, die Landstraßen unterbaut sind, wur-
den in einem großen Weltschiffbruch auf dieses Land geschleudert. Die
rätselhaften erratischen Blöcke ans den skandinavischen Gebirgen liegen
auf Rügen noch in ungezählter Menge, obgleich doch schon Jahrhun-
derte an diesem gefundenen Capital gezehrt haben. Sie sind vielfach
so groß, daß man sie mit Pulver sprengen muß, um die Bruchstücke
zur weitern Benutzung fortzuschaffen. Höchst charakteristisch nehmen sich
diese Granitsteine an den Untermauern und Sockeln der zahlreichen
gothischen Kirchen der Ostseeländer aus. In bunter Farbenmischung,
grün, grau, roth durcheinander, sind die verschiedenartigen formlosen
Steintrümmer zu einem cyklopischen Bau zusammengesetzt, wie sie ge-
rade eine Sündflnt von den Wracks der verschiedensten Urgebirgsselsen