1. Bd. 2
- S. 71
1860 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
161. Charakteristik der einzelnen Landestheile und ihrer Bewohner. 71
gothen haben diese schöne Anlage mehrmals als ein fürchterliches Unglück
büßen müssen. In diesem Lande und in den burgnndischen Alpen thaten sich
Sectirer ans, gleichsam die ersten Protestanten vor Huß und Martin
Luther. Wer kennt nicht die fürchterlichen Religionskriege und Vertil-
gungen in diesem Lande im dreizehnten Jahrhundert? Wer die Ge-
schichte dieses Landes kennt und seine Gedanken auf solche Erinne-
rungen zurückführt, kann sich schon ein Bild von den Menschen ent-
werfen; cs wohnt hier ein starkes, ernstes, ungestümes und leidenschaft-
liches Geschlecht, von viel festerem und härterem Schlage, als die Gas-
cogner sind.
Die Provence mit Marseille, Aip, Tonton und Avignon trägt
lvieder ein ganz verschiedenes Gepräge. Gothisches, Bnrgnndisches sitzt
gewiß in einzelnen Theilen, vielleicht zerstreut auch einzelnes Saraceni-
sches; denn die drei Völker haben nach einander hier geherrscht, aber
nicht in Massen einwandernd und nicht lange genug, um gleichsam ein
neues Volk zu bilden. Hier kann man also voraussetzen, und die Art
und Gelegenheit von Land und Volk bestätigt dies, und die gewaltige
Bedeutung der alten Massilia macht cs wahrscheinlich, daß der Haupt-
stock der Provençale:! die Abkömmlinge der alten romanischen Einwoh-
ner sind. Massilia, die älteste und größte Stadt des Südens, mit einer
zahlreichen Volksmenge, hielt sich in den Volksgetümmeln bei ihrem alten
Wesen und gab den zersprengten Bewohnern umher eine Zuflucht, wie
sie auch in den vielen abgeschnittenen und durchgeschnittenen Gebirgen
dieser Landschaft als Flüchtlinge viele Leichtigkeiten der Bergung und
Eutrinnung fanden. Auch ist in den Sitten und Gesichtern der Men-
schen etwas Eigenthümliches, Fürsichbestehendcs, etwas mit dem Italie-
nischen, der ligurischen Küste Gemeinsames, eine gewisse italienische Festig-
keit und Haltung mit französischer Lebhaftigkeit und Gewandtheit ge-
paart; doch schaut einem hier ein ganz eigenthümlicher südlicher Trotz
aus den Gesichtern entgegen.
Wir steigen nun durch das Delfinat über Vienne und Lyon an
der Rhone und Saone zu Macon, Auperre, Dijon, Besancon hinauf,
wir gelangen in die Ebenen und Berge der Burgunder. Dieses
Volk der Burgunder zog gleich den Langobarden und Westgothen als
Volk, nicht als Heer in die neue Heimath ein, es lagerte sich in dich-
teren Haufen darin und verwischte seinen Volkscharakter nicht so leicht
unter den Eingeborenen, als dies den im Innern Frankreichs dünn ge-
süeten Franken begegnen mußte. Dies ist derjenige Theil Frankreichs,
wo es den Deutschen gleichsam heimelt. Es weht hier ein stiller, freund-
licher Lebensathem über die Lande hin, eine gewisse von allem Lärm
und aller Eitelkeit entfernte, verständige Milde der Menschen, welche
übrigens zu den talentvollsten, tapfersten und freiheitliebendsten Fran-
zosen gezählt werden müssen. Einem Deutschen wird es schwerlich in
irgend einem Theile Frankreichs wohler sein als unter diesem burgnn-
dischen Stamme, wo ihm so häufig eine fast deutsche Gutmüthigkeit
und Treuherzigkeit begegnet. Selbst die große Fabrikstadt Lyon hat viel