1. Bd. 2
- S. 257
1860 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
220. Großrussen und Kleimusien.
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scheu zum Russischen herschreiben und daß das ganze Volk nur aus
einer Vermischung der Tataren, Polen und Russen entstanden sei. Allein
durch Sprachforschungen und andere Beobachtungen ist es längst aus-
gemacht, daß die Verschiedenheit dieser beiden Stämme eine viel ur-
sprünglichere ist und daß dem kleinrussischen Stamme in Bezug auf
das Alter vor dem großrussischen sogar die Priorität gebühre.
Die Großrussen haben einen ausfallend gedrungenen Körperbau,
kurzen Hals, starken Nacken, breite Schultern und kurze Beine, die
Kleinrussen dagegen einen sehr schlanken Wuchs, eine schmale Taille,
feine Knochen, so wie dünn aufgelegte Muskeln. Die Großrussen be-
sitzen starke und dicke Muskeln und neigen sich sehr zum Dickwerden.
Unter den Kleinrussen sieht man dagegen sehr selten starkmuskelige, fette
oder dickbauchige Menschen.
Die Haare der Großrussen haben meist helle Farben, sie sind braun,
gelb, oft goldgelb und blond, die der Kleinrussen dagegen-dunkel, schwarz
und tiefbraun, was die Behauptung Derer bestätigen kann, die da sa-
gen, daß die Kleinrussen reinere Slawen seien, die Großrussen aber sich
vielfacher mit den gelbhaarigen Finnen und blonden Normannen ge-
mischt hätten. Ebenso sind die Augen der Großrussen häufig blau, die
der Kleinrussen dagegen häufiger braun. Nach der allgemeinen Mei-
nung stehen die Kleinrussen dem slawischen Urtypus näher, als die
Großrnssen.
Alle Slawen und insbesondere alle Russen zeichnen sich trotz ihrer
oft so melancholischen und klagenden Gesänge durch eine große Heiterkeit
des Temperamentes und durch eine große Sorgcnlosigkeit um die Zu-
kunft aus, mit der dann eine eben so große Gleichgültigkeit gegen alles,
>vas da kommen mag, und eine unbesiegbare Indolenz bei Vorkehrungen
dafür innig zusammenhängt. Beide, Groß- wie Kleinrussen, leben gern
lustig, singen und jubilircn fleißig, arbeiten nicht gern viel und strengen
sich nicht eben bei der Arbeit an, lassen Glück und Unglück über sich
ergehen, wie es der Himmel sendet, und sind in Verbesserung ihres
Zustandes und in Erregbarkeit für neue und reformirende Ideen in-
dolent. So sehr dies von beiden gilt, wenn man sie vergleichend an-
deren Nationen gegenüberstellt, in so sehr verschiedenem Grade gilt cs
doch von ihnen, wenn man sie unter einander vergleicht.
Dem Großrussen gegenüber darf man den Kleinrussen nicht sehen,
wenn man seine Eigenthümlichkeit erkennen will. Denn in seiner Ge-
genwart erscheint der Kleinrusse, der den Moskowiter als seinen Besieger
und Befehlshaber betrachtet, dem nicht so viel Witz, Lebendigkeit, Be-
redsamkeit und Talente zu Gebote stehen, als jenem, gewöhnlich befan-
gen, stumm und gar melancholisch, wogegen er unter seines Gleichen
gern scherzt, tanzt, trinkt, auftrumpft, musicirt und sich mit Blumen
schmückt. Trinkgelage, lustige Aufzüge, Festivitäten und laute Musik
sind dem Kleinrussen besonders lieb und kein geringeres Vergnügen als
dem Großrussen.
Wenn Beide, Großrusse und Kleinrussc, lustige Brüder sind, so ist
Pütz, Charakteristiken zur vergleichenden Erdkunde. Ii. 17