1. Bd. 2
- S. 331
1860 -
Köln
: DuMont-Schauberg
- Autor: Pütz, Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Völkerkunde?
- Geschlecht (WdK): Jungen
239. Nordost-Sibirien.
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d. Kamtschatka.
Die Halbinsel Kamtschatka gehört zu den eben nicht seltenen
Ländern, für welche die Natur viel, der Mensch nur wenig gethan hat.
Die kalten Seewinde verhindern zwar den Baumwuchö an der östlichen
Küste, doch weiter hinauf ins Innere sind die Bergabhänge und Thäler
mit großen Waldungen bedeckt, in welchen der kostbare Zobel, das Renn-
thier, das Hermelin, der Bär und der blaue Wolf, den man für viel
gefährlicher, als den Bären selbst hält, in großer Menge vorkommen.
Der kamtschadalische Winter ist nicht so streng, als der im Innern
Sibiriens, wogegen aber der Sommer viel weniger Hitze erzeugt. Späte
und frühe Nachtfröste und häufiger Nebel und Regen sind dem Ge-
treidebau hinderlich, doch kommen Hafer und Sommergerste ziemlich
gut fort. Dem Gras- und Wiesenwuchs ist die feuchte Luft äußerst
zuträglich, und sogar das holländische Rindvieh würde eine Sehnsucht
nach Kamtschatka bekommen, wenn es hörte, wie üppig sein Futter dort
gedeiht. Sowohl an den Flüssen und Landseen als mitten im Lande
in den Wäldern und Feldbüschen wächst das Gras über 12 Fuß hoch,
und namentlich entwickeln sich manche Doldengewächse zu einer kolossa-
len Größe.
Bei diesem Ueberfluß ist es nicht zu verwundern, daß sowohl die
Pferde, als das Rindvieh, die von Iakutsk eingeführt worden sind, sich
ihrer Güte und Größe nach dergestalt verändern, daß man sie nach
Verlauf eines Jahres nicht mehr für dieselben Thiere erkennt. Die
Weiden sind so vortrefflich, daß die Gräser und andere Krantgewüchse
meist drei Mal in einem Sommer gemäht werden können, und in Folge
des hohen Wuchses liefern schon ungewöhnlich kleine Waldblößen oder
Grasflecken den Wintervorrath für das Vieh einer Ortschaft.
Kein Land der Welt hat größeren Ueberfluß an den besten und
schmackhaftesten Fischen, aus welchen auch die Hauptnahrung der Kamtscha-
dalen besteht. Im Frühjahr steigen die Lachse in so unbeschreiblicher Menge
die Flüsse hinauf, daß dieselben anschwellen und mit lebendigen Wellen
aus den Ufern treten. Wenn man mit einem Spieß ins Wasser stößt,
geschieht es selten, daß man nicht einen Fisch bekommen sollte, und
Steller*) behauptet, daß Bären, Hunde und andere Thiere hier an den
Ufern mehr mit ihrem Mund und Füßen sangen, als Menschen an-
derer Orte mit allen zur Fischerei gehörigen Werkzeugen. So wie
die verschiedenen Zugvögel nicht alle zugleich nach Norden ziehen, son-
dern zum Besten der Menschen einer dem andern folgt, so hat auch
eine jede Art von Fischen, die eine früher, die andere später, ihre Wan-
derungszeit, so daß den ganzen Sommer der größte Ueberfluß herrscht.
Es fehlt also in dem 4000 Ouadratmeilen großen Kamtschatka
durchaus nicht an Nahrung für eine bedenkende Bevölkerung: leider
steht aber letztere in gar keinem Verhältniß zum Reichthum der Fluren
und des Meeres. Ganz Kamtschatka zählt kaum mehr Menschen als
*) E. W. Steller aus Franken unternahm 1738 eine Reise nach Kamtschatka.