1. Bd. 1
- S. 437
1835 -
Eisleben
: Reichardt
- Autor: Cannabich, Johann Günther Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Königreich beider Sicilien.
triften und Zkegenweiden dar. Deshalb hat die Natur die Bewoh-
ner dieser Gegenden zu einem Hirtenvolke gemacht und das sind sie
auch in einein Grade, den nur der sich vorstellen kann, der diese
wenig beachteten und doch so merkwürdigen Landschaften besucht hat.
Kommt man von Neapel und von der höchst fruchtbaren und stark
bevölkerten Landschaft Terra di Lavoro in die Abruzzen, so sieht man
sich in eine neue Welt versetzt, deren einfaches, urzustandliches Na-
turleben den größten Eindruck auf den Reisenden macht. Da sieht
er zahllose, auf den Bergweiden überall zerstreute Schafheerden,
die Hütten und Dörfchen von Schafhirten und Stallen umgeben;
da hört er das unaufhörliche Geklingel von den Glöckchen der
auf den Berggipfeln weidenden Ziegen und begegnet fast keinem an-
dern Menschen als Schäfern in ihren Jacken von Schaffellen, mit
ihren schaafledernen Halbstiefeln, den weißen langhaarigen Schaf-
hund hinter sich. Dieses Hirtenvolk der Abruzzen, das gleichsam in
einem patriarchalischen Zustande lebt und die Einbildungskraft de-
Fremden in die frühesten Zeiten der Welt versetzt, hangt gleich allen
Bergbewohnern an seinem Vaterlande, seiner Religion und feiner
Regierung, und hat dieselbe Vorliebe für romantische Ueberlieferun-
gen, die den Bergschotten eigen ist, und ist eben so abergläubisch,
eben so Freund der Musik, und hat dasselbe Instrument wie der
Hochschotte, denn die Z a mpog na ist fast in nichts von dem Schot-
tischen Dudelsack unterschieden. Die Abruzzischen Schafhirten sind
ein schöner Menschenschlag und geben treffliche Soldaten, besonder-
Reiter; wenn sie gleich von Natur Abneigung gegen den Krieges-
dienst haben. Die besten Truppen in Murats Heere waren aus die-
sem Theile des Reichs. Dabei sind sie gutmüthig und gastfrei; iw
frühern Zeiten war das Land von Banditen sehr heimgesucht, und
einer der berüchtigtsten Rauberhauptleute, deren die neuere Geschichte
gedenkt, Marco Sciarra, war ein Abruzzese. In den neuesten
Zeiten hingegen weiß man kaum von einem Beispiele von Räuberei.
Der Winter wird in diesen Bergen in seiner ganzen, ja an einigen
Orten, in seiner höchsten Strenge empfunden. Deshalb ziehen die
Abruzzesen bei der Annäherung dieser Jahreszeit mit ihren Heerden
von den Bergen herunter in die Ebenen Apuliens oder Puglia's.
Die Ealabresen, ein Volk, von dem man im Allgemei-
nen keine günstige Meinung hegt, besitzen dennoch manche gute Ei-
genschaften; sie sind tapfer, standhaft, voll Feuer und Kraft; die
treuesten Freunde, aber auch die furchtbarsten Feinde. Durch güti-
ge Behandlung gewinnt man gar leicht das herz eines Ealabresen und
auf seine Treue kann man sich dann fest verlassen. Die Bauern sind
noch in einem halbwilden Zustande und das Elend, welches sie wahrend
der letzten 40 Jahre durch Erdbeben, fremde Invasionen und Bür-
gerkriege erduldeten, hat ihre Lage verschlimmert. Die französische
Armee verfuhr gegen die unglücklichen Ealabresen mit der größten
Grausamkeit; sie verbrannte die Halste der Dörfer, zerstörte die