1. Bd. 3
- S. 439
1838 -
Eisleben
: Reichardt
- Autor: Cannabich, Johann Günther Friedrich
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch
- Bildungsstufen (OPAC): Sonstige Lehrmittel, alle Lernstufen
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
Brasilien.
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senden der neuern Zeiten, doch weit davon entsernt ist, hinreichend be-
kannt zu seyn. Das erste, was einen in Brasilien ankommenden Eu-
ropäer in Erstaunen setzt, ist der Anblick der Urwälder oder jungfräu-
lichen Wälder (Mato Virgem). Man bezeichnet mit diesem Na-
men solche Wälder, welche als Zeugen der schöpferischen Kraft der
neuen Welt in ursprünglicher Wildheit und noch unentweiht durch
menschliche Einwirkung da stehen. In diesen Wäldern waltet noch
immer die Natur in ihrer ganzen jungfräulichen Kraft; nie ertönte
in ihnen der Schall der Holzaxt, nie hat eine menschliche Hand hier
den Samen zur Anlage eines Forstes ausgestreut; denn über den
Trümmern der vor Alter morsch gewordenen und umgestürzten Riesen-
stamme erheben sich alsbald in üppigem Wüchse wieder neue Pflan-
zengeschlechter, und immer und immer wiederholt sich hier das wechseln-
de Spiel erzeugender und zerstörender Naturkräfte.
In diesen Urwäldern weht den Wanderer Kühle an und zugleich
tritt ihm das Bild der üppigsten Fülle entgegen; eine ewig junge Ve-
getation treibt die Bäume zu majestätischer Größe empor, und noch
nicht zufrieden mit diesen riesenhaften uralten Denkmälern, ruft die
Natur auf jedem Stamme eine neue Schöpfung von vielen grünenden
und blühenden Schlingpflanzen hervor. Statt jener einförmigen Ar-
muth an Pflanzen-Arten in Europäischen, besonders in nördlichen
Wäldern, entfaltet sich hier eine unübersehbare Mannigfaltigkeit der
Bildungen in Stämmen, Blättern und Blüthen. Fast ein jeder dieser
Fürsten des Waldes, welche hier neben einander stehen, unterscheidet
sich in dem Gesammtausdrucke von seinen Nachbarn. Aber bei einer.so
großen Fülle von Leben und einem so kräftigen Ringen nach Entwick-
lung, vermag ein Boden, so fruchtbar wie der hiesige, doch nicht die
nöthige Nahrung in gehörigem Maße zu reichen; daher stehen jene
riesenartigen Gewächse in einem beständigen Kampfe der Sclbsterhal-
tung unter einander. Selbst die schon hoch erwachsenen und daher
einer großen Masse von Nahrungsstoffen bedürftigen Stämme empfin-
den den Einfluß ihrer noch mächtigern Nachbarn, bleiben bei Entzie-
hung der Nahrung plötzlich im Wachsthum zurück und fallen so in
kurzer Zeit den allgemeinen Naturkräften anheim, die sie einer schnel-
len Auflösung entgegen führen. Man sieht so die edelsten Baume
nach wenigen Monaten eines abzehrenden Zustandes von Ameisen und
andern Insekten zernagt, vom Grunde bis an die Spitze von Fäulniß
ergriffen, bis sie plötzlich zum Schrecken der einsamen Bewohner des
Waldes unter krachendem Geräusche zusammenstürzen.
Um die ganze Schönheit der Urwälder kennen zu lernen, muß
man in die Tiefe dieser Wälder dringen, die so alt als die Welt
sind. Hier erinnert nichts an die ermüdende Einförmigkeit unserer
Laub- und Nadel-Wälder; jeder Baum hat, so zu sagen, einen ei-
genthümlichen Wuchs; jeder hat sein eignes Laubwerk, das oft ein
von den benachbarten Bäumen verschiedenes Grün darbietet. Riesige