1860 -
Hannover
: Pockwitz
- Autor: Ulrici, C. W.
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
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Litthauer, französische und österreichische Unterthanen wallen zu den Tempeln. —
Uebermorgen aber bimmeln die tausend Glocken der griechischen Kolokolnicks, und
nun summt« und flattert es auf allen Straßen von den grasgrünen, blutrothen,
schwefelgelben, veilchenblauen Töchtern und Frauen der russischen Kaufleute.
An großen Staatsfesten aber, den sogenannten. „Kaiserlichen Tagen", erscheinen
dann alle Trachten, alle Farben und Moden, die von Paris bis Peking gäng
und gebe sind.
Eine merkwürdige Festlichkeit ist die alljährlich am 6. Januar stattfindende
Taufe der Newa, woourch die ganze Stadt in heilige Aufregung versetzt wird.
Die Newa ist äußerst fischreich, trägt sehr große Schiffe und gewährt den Peters-
burgern zugleich das Trinkwasser und in ihren gesellschaftlichen Verhältnissen die
wesentlichsten Erleichterungen. Es ist daher wohl begreiflich, daß sie ihnen ein
Gegenstand der Verehrung ist, der sich in einem feierlichen Kultus kundgiebt, der
in der hochpriesterlichen Weihe des Wassers besteht, das dann von Tausenden und
Abertausenden in Gefäßen aller Art geschöpft und nach Hause gebracht wird, um
vamit ihre Bogs, Gottesbilder, die jeder Russe in seinem Hause hat, zu bespren-
gen und die bösen Geister zu bannen. Das Wasser, also geweiht, wird gleicher-
weise auch für eine Universalmedicin gegen Krankheiten des Körpers und des
Geistes gehalten. — Die Feierlichkeit selbst beginnt Mittags 12 Uhr in dem Augen-
blicke, wo der Kaiser unter dem Donner der Kanonen von der Citadelle entblößten
Hauptes sein Palais verläßt und, gefolgt von seinem ganzen Hofe, dem Stabe
und der höher» Geistlichkeit, dem großen, mit Heiligenbildern verzierten, auf dem
Eise errichteten Pavillon zuschreitet. Das bis jetzt ununterbrochen tönende
Geläute verstummt, und der Archimandrit mit seiner Geistlichkeit stellt sich an die
Oeffnung im Eise, liest die Messe, segnet das Wasser der Newa und ruft: „Herr,
erbarme dich unser!" diesen Ruf sehr oft wiederholend. Mit dem Eintauchen
eines großen Krucifixes in die Newa, wodurch das Wasser die Weihe erhält, schließt
die Festlichkeit.
61. Das Königreich Polen.
Das alte Königreich Polen, ein ausgedehntes Reich von den Karpathen im W.
bis zu der Düna und dem Dnjepr im O., umfaßte 13,000 Quadratmeilen mit 16 Mill.
E. Der kleinere, aber beste westliche Theil, das eigentliche Polen, zerfiel wieder in
Groß-Po len (wozu polnisch Preußen gerechnet ward) und Klein-Polen. Der
östlichere größere, aber 'weniger fruchtbare und bevölkerte Theil war das Groß-
fürstenthum Lithauen, mit anderer (lithauischer) Bevölkerung, unter allen europäi-
schen Ländern am spätesten gegen Ende des 14ten Jahrhunderts zum Christenthum
bekehrt und um dieselbe Zeit mit Polen dadurch vereinigt, daß der lithauer Groß-
fürst Jagiello, der die polnische Erbtochter Hedwig heirathete, auch König von Polen
ward. Unter den Jagellonen im I5ten und loten Jahrhundert war Polen ein
mächtiger Staat, dem deutschen Orden und Rußland gefährlich, eine Vorhut gegen
die Türken. Gegen Ende des I6ten Jahrhunderts starb der Stamm der Jagellonen
aus, und Polen war von der Zeit ab ein Wahlreich. Dies war der erste Schritt
zum Untergange. Zwar hat es noch einige tüchtige Regenten gehabt (Johann
Sobieski), aber doch war seitdem fast dauernd Wahlzwist und Verwirrung im Lande.
Dabei wurde die königliche Macht immer mehr beschränkt. Der Staat führte zuletzt
zwei Namen: Republik und Königreich. Das Heft der Gewalt hatte im Grunde
der zahlreiche (auf 14 Menschen kommt in Polen ein Adliger), fast immer in Par-
tieen getheilte Adel. Der Reichstag Polens, auf dem schon eine Stimme jeden
Beschluß hindern konnte, ist wegen seines stürmischen, lärmenden Hergangs bei uns
sprüchwörtlich geworden. Dazu kam religiöser Streit zwischen der römisch-katholi-
schen Kirche, der herrschenden im Lande, und den Dissidenten, d. h. von ihr ab-
weichenden Griechen und Protestanten. Auswärtige Mächte wurden zuerst von
polnischen Parteien aufgerufen, sich in die Angelegenheiten des in sich zerrissenen
Landes einzumischen. Rußland, Oesterreich und Preußen thaten dies hernach freilich
in solcher Ausdehnung, daß in drei Theilungen 1772, 1793, 1795 ganz Polen unter
sie getheilt ward. Warschau wurde eine preußische Stadt; der letzte schwache
König Stanislaus Poniatowski bezog eine russische Pension. In den Stürmen der
napoleonischen Zeit haben Oesterreich und namentlich Preußen einen großen Theil
ihrer polnischen Länder wieder verloren; über % von Polen stehen unter russischer
Herrschaft.