1829 -
Crefeld
: Funcke
- Autor: Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm
- Sammlung: Geographieschulbuecher vor 1871
- Schultypen (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Schultypen Allgemein (WdK): Höhere Lehranstalten, Mittlere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Selbstunterricht
- Regionen (OPAC): Rheinprovinz
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
188 —
6. Dee Gräfin von Kieve.
Auf dem Söller ihrer einsamen Burg saß Beatrir,
die junge, schöne Gräfin von Kleve, und schaute traurig
den Rhein hinauf. Sie hatte keine Aeltern mehr, denn
ihr Vater war längst nach Palästina gezogen und nicht
mehr zurückgekehrt, und der Tod hatte chr nun auch
kürzlich die Mutter entrissen, und mit dieser war alle
Lust ihres Lebens zu Grabe getragen worden. Es war
ein stiller Sommerabend, und'so weit das Auge reichte,
sah man kein Fahrzeug auf dem Strom und keinen Wan-
drer an seinen Ufern. Die junge Gräfin kam sich vor,
als wäre sie allein in der Welt, und ihr gepreßtes Herz
floß in Thränen über. Jetzt zeigte sich in der Ferne ein
Schiff, das mit vollen Segeln daher flog. Das Scbiff
kam bald näher, und endlich so nah, daß Beatrir Alles
darauf recht deutlich unterscheiden konnte. Oben auf der
Scgelstauge schimmerte ein goldener Schwan, und tief
unten hieng ein Schild mit demselben Zeichen. Auf dem
Verdeck stand ein junger Ritter von stattlichem Ansehen,
der, fast unbeweglich, nach der Gräsin hinüber sah. Das
Fahrzeug wendete jetzt plötzlich nach dem Ufer, wo die
Burg stand. — Beatrir empfand darob ein unerklärli-
ches Bangen, und entfernte sich vom Söller, als die Rei-
fenden ans Land stiegen. Sie ging nachdenkend im Ge-
mach auf und ab; da meldete man den fremden Ritter,
der eben angelangt war. Beatrir empfing ihn mit Herz-
klopfen — sie hatte nie eine so edle, einnehmende Jüng-
lingsgestalt gesehen, und in ihr unbewachtes Herz fiel
der erste Funke der Liebe. Der Fremde sagte seinen Na-
men und seinen Auftrag. Er hieß Erlin von der Schwa-
uenburg, kam aus Antiochien, und brachte der Gräfin
Kunde von ihrem Vater, der noch am Leben war, aber
sich, durch ein Gelübde, auf Lebenslang, zum Dienste
der Christen in Palästina verbunden hatte. Beatrir wur-
de bei der Nachricht von Schmerz und Freude bewegt;
doch behielt jener die Oberhand, denn es grämte sie sehr,
daß sie ihren Vater nicht mehr sehen sollte.
Erlin blieb drei Tage bei der Gräfin, und mußte ihr
die ganze Zeit über von ihrem Vater erzählen. Am
Abend des dritten Tags überreichte er ihr ein Brieflein
mit den Worten: Les't, schöne Beatrir, und sagt mir
dann, ob ich morgen reisen oder noch länger bleiben soll!
Das Brieflein war von ihrem Vater und erhielt die we-
nigen Worte: