1856 -
Berlin
: Stubenrauch
- Autor: Wetzel, Friedrich, Richter, Carl, Menges, Heinrich, Menzel, J.
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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Daher, als sie einstmals auch vor dem Hause auf die leib-
lichen Almosen warteten, liess ich sie alle in’s Haus kommen,
hiess auf eine Seite die Alten, auf die andere das junge Volk
treten und fing allsofort an, die Jüngeren freundlich zu fragen
aus dem Katechismo Lutheri von dem Grunde ihres Christen-
thums, liess die Alten nur zuhören, brachte mit solcher Katechi-
sation nicht mehr Zeit als etwa eine Viertelstunde zu, beschloss
mit einem Gebete und theilte darauf nach Gewohnheit die Gaben
aus, mit beigefügter Vorstellung, dass sie also künftig allezeit das
Geistliche und Leibliche zugleich haben sollten, und ermahnte sie,
allezeit des Donnerstages auf gleiche Weise in meinem Hause
zu erscheinen, welches sie denn auch thaten. Dieses ist zu An-
fang des 1694sten Jahres angefangen.
Hierzu kam, dass mir die Noth der Hausarmen, die sich
von öffentlichem Almosensammeln enthalten, sehr zu Herzen ging.
Diesen nun auf einige Weise zu dienen, liess ich in der Wohn-
stube des Pfarrhauses eine Büchse fest machen und oben darüber
schreiben: „Wenn Jemand dieser Welt Güter hat, und siehet sei-
nen Bruder darben, und schleusst sein Herz vor ihm zu, wie
bleibet die Liebe Gottes bei ihm?“ (1. Job. 3.) Und darunter:
„Ein jeglicher nach seiner Willkür; nicht mit Unwillen oder
Zwang; denn einen fröhlichen Geber hat Gott lieb.“ (2. Kor. 9.)
Dieses sollte Diejenigen, so bei mir aus- und eingingen, oder von
andern Orten zu mir kämen, selbst erinnern, ihr Herz gegen die
Armen aufzuschliessen. Solches geschahe zu Anfang des 1695sten
Jahres, dass ich’s mit dieser Büchse anfing.
Da geschahe es nach gar kurzer Zeit, dass eine gewisse Per-
son auf einmal vier Thaler und sechszehn Groschen in meine
Armenbüchse hineinthat. Als ich dieses in die Hände nahm, sagte
ich mit Glaubensfreudigkeit: „Das ist ein ehrlich Kapital; davon
muss man etwas Rechtes stiften; ich will eine Armenschule da-
mit anfangen.“ — Ich besprach mich nicht darüber mit Fleisch
und Blut, sondern fuhr im Glauben zu und machte noch dessel-
bigen Tages Anstalt, dass für zwei Thaler Bücher gekauft wur-
den, und bestellte einen armen Studenten, die armen Kinder täg-
lich zwei Stunden zu unterweisen.
Um Ostern 1695 fing sich diese Armenschule mit so gerin-
gem Vorrath an; denn die oben erwähnten vier Thaler und sechs-
zehn Groschen sind der rechte Anfang und das erste Kapital,
woraus nicht allein zuerst die Armenschule angerichtet, son-
dern auch sofort hernach das Waisenhaus veranlasst und er-
wachsen ist.“
Und dieses ist dasselbe Waisenhaus, welches noch heute als
ein Zeichen und Zeugniss der Gnade Gottes dasteht, und worin,
wie oben berichtet, täglich an dreitausend Kinder Schule und
Unterricht empfangen und arme Waisen erzogen werden, und
worin noch gar viel andere Liebeswerke gross gewachsen sind,
dass man sagen muss: Hier ist aus einem Senfkorn ein grosser
Baum geworden, in dessen Zweigen die Vögel des Himmels
nisten.