1856 -
Berlin
: Stubenrauch
- Autor: Wetzel, Friedrich, Richter, Carl, Menges, Heinrich, Menzel, J.
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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und Saatfelder umkränzen das nordwestliche Ufer. Aus den Büschen ertönt das
Lied der Drossel und Nachtigall und aus den Felsenhöhlen von Magdala die
Stimme der wilden Taube.
In diesem gesegneten Seethale drängte stch sonst eine unermeßliche Volks-
menge im rührigsten Verkehre. Blühende Städte und Flecken, wie Capernaum,
Chorazin, Bethsaida, Magdala, Liberias sammt ihren reizvollen Gärten, Fel-
dern und Obsthainen umgürteten den See. Gegen zwölfhundert Fischer fanden
hier ihre Nahrung; drittehalbhundert Fahrzeuge durchkreuzten den Wasserspiegel.
Hier war der heitere, gesegnete Schauplatz der Wirksamkeit des Herrn. Hier
erlaö er sich die tüchtigsten seiner Apostel; hier und im ganzen Umkreise dieser
Gestade predigte er von dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit; hier heilte
er Viele, die von Krankheit und Seuche geplaget waren.
Aber von Capernaum, „die bis in den Himmel erhoben war," von
Chorazin und Bethsaida, den Städten, „in welchen am meisten Seiner
Thaten geschehen und hatten sich doch nicht gebessert," ist keine Spur mehr zu
finden, als wären sie „bis in die Hölle hinunter gestoßen." Die Wälder und
Weingärten sind von den Hügeln verschwunden; Palmen-, Feigen-und Oliven«
bäume stehen nur noch vereinzelt umher.
Dicht am See auf einer schmalen Ebene, fünf Viertelstunden von Mag-
dala, von wannen Maria Magdalena stammte, liegt Liberias, welches He-
rodes Antipas erbauete. Heut ist die Stadt klein und unansehnlich und liegt
halb in Trümmern. — Von dem Slldende des See's Liberias beginnt das
Jordanthal, welches sich 25 Stunden weit, bis zum todten Meere hin, absenkt.
Zu beiden Seiten wird es von felsigen Kalkgebirgen begleitet. Die hohen
Wände des Thales drängen die Sonnenhitze in ihm zusammen und wehren den
kühlenden Westwinden den Zutritt. Das Wasser des Flusses ist trübe und geht
in rascher, aber geräuschloser Strömung. Im Sommer ist der Fluß seicht;
aber im Frühling wächst er an Tiefe und reißender Schnelle. Seine Ufer sind
dicht mit Buschwerk besetzt, mit Weiden, Pappeln, Schlingpflanzen, reiterhohem
Schilfrohr. In diesem Dickicht hausen Vögel, Hasen, wilde Schweine, Schakals,
Luchse, Leoparden, vormals auch wohl Löwen. An den Jordan heran tritt die
berühmte Ebene von Jericho, einst geschmückt mit Palmenwäldern, Zucker-
rohr, Rosenhecken und Balsamgärten, heut dürr und öde. Daneben liegt die
Wüste von Jericho, ein rauhes Gewirr von Berg und Thal, öden Felsen-
klippen mit grausenhaften Abgründen, Klüften und Höhlen; der Boden ist ver-
brannt und ausgedorrt, aschenfarbig und braun und völlig nackt. Hierher ver-
setzt uns das Gleichniß vom barmherzigen Samariter. Noch heute heißt ein
" wildes, enges Thal das Mordthal. In der Wüste von Jericho hielt sich der
Herr auf, als er vom Teufel versucht ward. Der Jordan ergießt sich endlich in das
todte Meer. Im alten Testamente wird es daß Salzmeer genannt. Das
Wasser hat einen schönen, grünlichen Schein und ist ziemlich klar, hat aber einen
widerlichen, salzigen Geschmack. Es hat eine außerordentliche Hebungskraft, so
daß man sich, auch ohne schwimmen zu können, mit Leichtigkeit auf der Ober-
fläche des See's erhält. Die starke Ausdünstung aus dem Meere macht, daß
seine Salze, besonders in der Sommerzeit, an verschiedenen Theilen des Ufers sich