1857 -
Leipzig
: Wöller
- Autor: Winter, Georg Andreas
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Landschule, Stadtschule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
49
wohlseil. Wenn sie des Vormittags vom Markte nach Hause kam, war
sie immer sehr heiter, denn sie hatte alles für ein Spottgcld bekom-
men. Die Hühnerchcn kosteten nur sechzehn Groschen, die Mandel
Eier nur einen Zwanziger, die Butter nur einen Gulden. Sie war
voll Freuden, wenn sie auf diese Arr nur fünf bis sechs Gulden aus-
gegeben hatte. — Wie viel kostet der Stoff, Frau Nachbarin?
Fr. F.: Der Stoff? — Zwei Gulden dreißig Kreuzer ist er ge-
boten.
Fr. Kl.: Ja recht; mein Gedächtniß verläßt mich zuweilen. Die
gute Frau hatte aber noch das. daß sic alles Geld, was sie einnahm,
nur für eine Kleinigkeit ansah. So verkaufte sie ihren Garten und
bekam nur eintausend Gulden dafür. Ihre Weinberge trugen ihr nur
achttausend Gulden ein. Ihr Haus am Ende nur zehntausend. Sie
war recht froh, als sie den' Bettel los war. Sie wissen, Frau Nach-
barin, daß sie bald nichts mehr hatte. Das fatale Nur! Ja,das
Nur!
Fr. F.: Das Nur?- Man sehe doch!
Fr. Kl.: Wie viel soll ich ihnen borgen, Frau Nachbarin?
Fr. F.: Ach, liebe Frau Nachbarin, ich werde wohl den Stoff
stehen lassen. Die Geschichte mit der Frau ist doch sehr traurig.
Leben sic wohl, Frau Nachbarin. Nehmen sie mir nichts übel.
Fr. Kl.: Ei behüte! Wenn ich dienen kann, recht gern. Leben
sie wohl! Chr. Okser.
60. Die Ncryahrsnacht eines Anglücklichcn.
6t Ein alter Mensch stand in der Ncujahrsmitternacht am
Fenster, und schaute mit dem Blicke einer bangen Verzweiflung auf
zum unbeweglichen, ewig blühenden Himmel, und herab auf die stille,
reine weiße Erde, worauf jetzt niemand so frcuden- und schlaflos
war, als er. Denn sein Grab stand nahe bei ihm; es war bloß vom
Schnee des Alters, nicht vom Grün der Jugend verdeckt, und er
brachte aus dem ganzen reichen Leben nichts mit, als Irrthümer, Sün-
den und Krankheiten, einen verheerten Körper, eine verödete Seele,
die Brust voll Gift und ein Alter voll Reue. Seine schönen Jugend-
tage wandten sich heute als Gespenster um, und zogen ihn wieder vor
den holden Morgen hin, wo ihn sein Vater zuerst ans den Scheide-
weg des Lebens gestellt hatte, der rechts auf der Sonnenbahn der
Tugend in ein weites, ruhiges Land voll Licht und Ernten und voll
Engel bringt, und links in die Maulwnrssgänge des Lasters hinab-
zieht; in eine schwarze Höhle voll hcrüntertropfendcn Giftes, voll
spielender Schlangen und finsterer, schwüler Dämpfe.
Ach, die Schlangen hingen um seine Brust und die Gifttropsen
auf seiner Zunge, und er wußre nun, wo er war.
Winter, Lesebuch. In
4