1857 -
Leipzig
: Wöller
- Autor: Winter, Georg Andreas
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch, Lehrbuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Landschule, Stadtschule
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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send Jahren, und wenn dem Seiler Franz von Fürs eld, in der weiten
Welt draußen etwas Außerordentliches passirte, dachte er immer: „Was
werden sie daheim in Fürfeld (es ist das ein kleines Dorf, und steht
auf keiner Landkarte), wohl dazu sagen? Was werden sie denken,
wenn ich einmal heim komme mit Kutsch' und Pferd?
Er ist heimgekommen mit Kutsch' und Pferd, aber hat nicht mehr
gehört, was die Fürfelder dazu sagen.
An der langen Kirchhofmauer zu Fürfeld hatte früher der Seilermei-
stcr seine Werkstätte, und es ging dabei, wie es das Geschäft mit sich
bringt, ihm und seinem Lehrjungen immer hinderlich. Der Lehr-
junge, er hieß Franz mit Namen, war schon frühe ein absonderlicher
Kopf, der sich oft an die Kirchhofmauer stieß, d. h. in Gedanken.
Er konnte nicht begreifen, warum man die Todten in eine Mauer
einschließe; eine lebendige Hecke wäre viel schöner gewesen. Dann
blickte Franz oft hinüber nach dem Plätzchen, wo sein Vater und
seine Mutter lagen. Es war gut, daß er sich am Seile halten und
rückwärts gehen konnte, denn Thränen verdunkelten sein Auge und
seine Knie zitterten. Dort lagen alle seine Lieben, er hatte keine
Geschwister und keine Verwandten. Wie das aber so geht: wenn
man tagtäglich etwas sieht, merkt man nichts mehr davon und das
Gefühl stumpft sich ab. So sah Franz auch bald nicht mehr an die
Mauer und sah nicht mehr nach den Gräbern hinüber.
Viele tausend Menschen sehen nichts mehr von den Verkehrtheiten
und Traurigkeiten auf ihren Wegen, weil sie daran gewöhnt sind,
und sic leben gedankenlos fort.
Die Zeit der Wanderschaft kam. Franz hatte leichtes Gepäcke, aber
auch viel leichten Muth. Als er an dem Kirchhofe vorüberzog und
den schmalen abgetretenen Fußpfad sah, den er tausend - und aber-
mal tausendmal gemessen hatte, da dachte er mit schwerem Herzen
daran, was für neue abgetretene Pfade er jetzt zu wandern habe.
Noch ein Blick hinüber nach jener heiligen Stätte, und — fort
ging's mit einem lustigen Liede.
Franz war ein frommes, Gott vertrauendes Gemüth. Er wanderte nun
vorerst nach den südlichen Ländern. Er fand nur selten Arbeit. Da
nahm er sich endlich vor, nach Italien zu wandern; er wußte selber
nicht recht, warum, aber ein wandernder Handwerksbursche macht kei-
nen Umweg, wenn er auch noch so sehr fehl geht. Er fand auch
hier wenig Arbeit, denn man hatte inländische Stricke genug und
brauchte keine fremden, und auch hier laufen die ärgsten Spitzbuben
Angehangen umher. Franz ging zuerst auf Venedig zu. Dort wollte
er lernen, große Schiffstaue zu machen. Darnach trug er großes
Verlangen. Unterwegs aber muß er mit Trauer sehen, daß seine