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1. Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands - S. 55

1868 - Wiesbaden Schleswig Hannover : Schulbuchh. Schulze Jurany & Hensel
55 das war er auch. Er verkaufte daher von seinen Sachen ein Stück nach dem andern, bis ihm nichts mehr übrig blieb ; aber er hatte dafür die Freude, seinen Kameraden durch seine Pflege wieder her- gestellt zu sehen. Dieser konnte ihm die Treue, die er an ihm be- wiesen hatte, nicht genug danken und weinte manchmal an seinem Halse aus Bekümmernisz, dasz er ihm seine verkauften Kleidungs- stücke nicht wieder ersetzen könnte; aber der Schneider tröstete ihn darüber und sagte : Gott werde es ihn wohl nicht vermissen lassen ; ein Mensch sei dem andern einen solchen Liebesdienst wohl schuldig, und besonders in der Fremde müsse keiner den andern verlassen. Sie reisten darauf noch mit einander bis nach Warschau, der Hauptstadt in Polen, wo der arme Schmidt Arbeit bekam, der Schneider aber nicht. Beide Freunde muszten sich also hier tren- nen. Als der Schneider wieder auswanderte, gab ihm der Schmidt eine Stunde weit das Geleite, und unter Vergieszung häufiger Thrä- nen schieden sie, als wenn sie leibliche Brüder gewesen wären, von einander, ohne eben hoffen zu können, dasz sie sich in dieser Welt jemals wieder sehen würden. Der Schneiderwanderte darauf durch Böhmen, Sachsen, Hessen, Lothringen bis nach Frankreich, wo er beinahe zehn Jahre blieb und bald in dieser, bald in jener Stadt arbeitete, ohne irgendwo sein Glück zu finden. Endlich kehrte er nach Deutschland zurück und gerieth in Frankfurt am Main unter die Werber, welche ihn über- redeten, kaiserliche Dienste zu nehmen, und ihn als Rekruten nach Wien transportierten. Da er aber schwächlich und fast beständig krank war, liesz man ihn nach einigen Jahren wieder laufen, wohin er wollte. Fast nackt und blosz kam er nach Sachsen, um daselbst wieder Arbeit zu suchen ; allein da ihn in seinem elenden Anzuge niemand zur Arbeit annehmen wollte, so muszte er endlich betteln. Eines Abends spät sprach er in einem Dorfe (es war gerade an einem Sonnabende) bei einer Schmiede auch um einen Zehrpfennig an. Da dünkte dem Meister, welcher mit vier Gesellen vor der Esse arbeitete, dasz die Stimme des Ansprechenden ihm sehr be- kannt sei. Er nahm die Hängelampe in die Hand, schaute dem Bettler in’s Gesicht, und — „Je Bruder! bist du’s oder bist du’s nicht?“ riefen beide fast zu gleicher Zeit; und in der That waren es die Kameraden, die seit der Trennung in Warschau nichts weiter von einander gehört hatten. Der Schmidt, welcher unterdessen in dieser Schmiede in Arbeit gestanden und durch die Meirath der Witwe, welcher sie gehörte, wohlhabend geworden war, war ganz auszer sich vor Freuden. Er herzte und küszte den Schneider uad schämte sich seiner nicht, obgleich er ein zerlumpter Bettler war. Er führte ihn mit lautem Jubel in seine Stube, drückte ihn in den Groszvaterstuhl am Ofen nieder, sprang auf einem Beine wie ein Knabe, und alle seine Hausgenossen sperrten vor Verwunderung
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