1868 -
Wiesbaden Schleswig Hannover
: Schulbuchh. Schulze Jurany & Hensel
- Hrsg.: Meyn, Ludwig, Johansen, Christian, Keck, Heinrich, Sach, August
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Volksschule
- Regionen (OPAC): Norddeutschland
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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vor, die sie als Königin dieses Landes zu erwarten habe; aber mit Hoheit er-
widerte sie: „Ihrwiszt, dasz euer Vater Ludwig meinen Vater erschlug; wie
könnte denn zwischen uns Freundschaft sein?“ Als endlich alle seine Ueber-
redungskunst sich unnütz erwies, wandte er sich an seine Schwester Ortrun und
bat sie, ihre Freundin zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Freudig erwiderte jene :
„0 wie gern will ich ihr dienen! mein Haupt will ich ihr neigen, dasz sie wo
möglich ihres Leides vergesse.“ So ward Gudrun zu Ortrun geführt und wie-
der fürstlich gehalten, aber auch die holde Güte des einzigen Wesens im Nor-
mannenlande, dem sie herzlich zugethan war, vermochte nicht, sie wankend zu
machen; ihr Schluszwort auf alle Mahnungen der Freundin blieb immer: „Einem
König bin ich längst mit festen Eiden zum ehelichen Weibe verlobt und zu-
gesagt; ehe er gestorben ist, werd' ich nie einem anderen angehören.“ Da also
auch der Aufenthalt bei Ortrun, obgleich er viele Wochen dauerte, keine Aen-
derung in ihren Entschlüssen hervorbrachte, gab endlich Hartmut unwillig und
verdrossen seine Versuche, sie durch Güte zu bewegen, auf und überliesz sie
wieder seiner Mutter. Da begannen denn die Mißhandlungen wieder schlimmer,
als zuvor. Gudrun muszte am Meeresstrande im rauhesten Wetter Gerlindens
Kleider waschen; aber auch diese äuszerste Demüthigung ertrug sie, um ihrem
Herwig treu zu bleiben. Freilich erweckte die Verzweiflung in ihr bisweilen
harten Trotz, sodasz sie sprach: „Ich soll einmal nicht glücklich sein, so wollte
ich denn, ihr behandeltet mich noch schlechter;“ aber einen Trost hatte sie
doch an der treuen Hildburg', die durch vieles Bitten die Erlaubnisz erlangte,
täglich Gudrun an den Meeresstrand zu begleiten.
6. Wie die Friesen ausführen, um Gudrun zu befreien.
Wenn die Noth am'gröszten, ist die Hülfe am nächsten. Im Friesenlande
wuchs unterdessen ein neues Geschlecht heran, und Königin Hilde, der die Sorgen
das Haar gebleicht hatten, sann unablässig auf den Rache- und Befreiungszug.
Endlich, als das vierzehnte Jahr seit Gudruns Entführung herankam, sandte
Hilde Boten an Herwig und ihren Sohn Ortewin und alle ihre Dienstmannen,
vor allen an Wate, Ernte und Horand, und berief ein gewaltiges Heer, das mit
einer wohlgerüste’ten Flotte gleich nach Anfang des Jahres die Fahrt nach Nor-
mandie antrat. Aber die kampfmuthigen Krieger hatten mit vielen Schwierig-
keiten zu ringen, ehe sie jenes Land erreichten. Zuerst wurden sie von widrigen
Winden hoch nach Norden in das finstere und unbewegliche Lebermeer ver-
schlagen , wo der Magnetberg sie für immer festzuhalten drohte; endlich nach
langen Tagen verzog sich der Nebel, und ein günstiger Luftzug trieb sie wieder
in klares und flüssiges Wasser. Aber da erhub sich ein schwerer Sturm, der
sie endlich nach vielen Gefahren an eine unbekannte Küste warf; hier muszten
sie, um sich von den überstandenen Mühseligkeiten zu erholen, sich eine Rast
von einem Tage gönnen. Als aber einer der Krieger einen riesigen Baum er-
kletterte und in weiter Ferne Ludwigs Burg erkannte, da liesz es Ortewin und
Herwig nicht länger Ruhe: sie erboten sich, während das übrige Heer noch
rastete, in Fischerkleidung in die nahe Normandie zu gehen, um zu erfahren,
ob Gudrun und die mit ihr Entführten noch am Leben seien. Dringend rieth
selbst Wate von dem verwegenen Unternehmen ab, aber in Ortewin und Herwig
war die Sehnsucht zu mächtig, und gerade die Gefahr lockte die Helden.
7. Wie Gudrun am Strande wusch.
Der armen Gudrun war ihr Loos inzwischen nicht erleichtert worden.
Aber als sie eines Tages, um den Eintritt der Frühlingszeit, wieder mit Hildburg
am Strande wusch, siehe, da kam ein Schwan geschwommen, und der begann
mit menschlicher Stimme zu reden und gab Gudrun auf ihre Fragen Auskunft
über Hilde und alle Helden in der Heimat; zugleich verhiesz er ihr für den
folgenden Morgen das Eintreffen zweier Boten aus dem Friesenlande. Das war
die erste Freude seit langer Zeit, und fröhlich nahmen die beiden Jungfrauen