1868 -
Wiesbaden Schleswig Hannover
: Schulbuchh. Schulze Jurany & Hensel
- Hrsg.: Meyn, Ludwig, Johansen, Christian, Keck, Heinrich, Sach, August
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Volksschule
- Regionen (OPAC): Norddeutschland
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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Und sieh'! in der Fürsten umgebenden
Kreis
trat der Sänger im langen Talare;
ihm glänzte die Locke silberweiß,
gebleicht von der Fülle der Jahre.
„Süßer Wohllaut schläft in der Saiten
Gold;
der Sänger singt von der Minne Sold,
er preiset das Höchste, das Beste,
was das Herz sich wünscht, was der
Sinn begehrt;
doch sage, was ist des Kaisers werth
an seinem herrlichsten Feste?"
„Nicht gebieten werd' ich dem Sänger",
spricht
der Herrscher mit lächelndem Munde;
„er steht in des größeren Herren Pflicht,
er gehorcht d?r gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind saust,
man weiß nicht, von wannen er kommt
und braust,
wie der Quell ans verborgenen Tiefen,
so des Sängers Lied ans dem Innern
schallt
und wecket der dunkeln Gefühle Gewalt,
die im Herzen wunderbar schliefen."
Und der Sänger rasch in die Saiten fällt
und beginnt sie mächtig zu schlagen:
„Auf's Waidwerk hinaus ritt ein edler
Held,
den flüchtigen Gemsbock zu jagen.
Ihm folgte der Knapp mit dem Jäger-
geschoß,
und als er auf seinem stattlichen Roß
in eine Au kommt geritten,
ein Glöcklein hört' er erklingen fern,
ein Priester war's mit dem Leib des
Herrn;
voran kam der Meßner geschritten.
Und der Graf zur Erde sich neiget hin,
das Haupt in Demuth entblößet,
zu verehren mit gläubigem Christensinn,
was alle Menschen erlöset.
Ein Büchlein aber rauschte durchs Feld,
von des Gießbachs reißenden Fluten ge-
schwellt;
das hemmte der Wanderer Tritte.
Und beiseit' legt jener das Sakrament,
von den Füßen zieht er die Schuhe behend,
damit er das Bächlein durchschritte.
Was schaffst du? redet der Graf ihn an,
der ihn verwundert betrachtet. —
Herr, ich walle zu einem sterbenden Mann,
der nach der Himmelskost schmachtet.
Und da ich mich nahe des Baches Steg,
da hat ihn der strömende Gießbach hin-
weg
im Strudel der Wellen gerissen.
Drum, daß dem Lechzenden werde sein
Heil,
so will ich das Wässerlein jetzt in Eil'
durchwaten mit nackenden Füßen.
Da setzt ihn der Graf auf sein ritter-
lich Pferd
und reicht ihm die prächtigen Zäume,
daß er labe den Kranken, der sein begehrt,
und die heilige Pflicht nicht versäume.
Und er selber ans seines Knappen Thier
vergnüget noch weiter des Jagens Begier.
Der andre die Reise vollführet,
und am nächsten Morgen mit dankendem
Blick,
da bringt er dem Grafen sein Roß zurück,
bescheiden am Zügel geführet.
Nicht wolle das Gott, rief mit De-
muthssinn
der Graf, daß zum Streiten und Jagen
das Roß ich beschritte fürderhin,
das meinen Schöpfer getragen!
Und magst du's nicht haben zu eignem
Gewinnst,
so, bleibt es gewidmet dem göttlichen
Dienst!
Denn ich hab' es dem ja gegeben,
von dem ich Ehre und irdisches Gut
zu Lehen trage und Leib und Blut
und Seele und Athem und Leben. —
So mög' auch Gott, der allmächtige
Hort,
der das Flehen der Schwachen erhöret,
zu Ehren Euch bringen hier und dort,
so wie Ihr jetzt ihn geehret.
Ihr seid ein mächtiger Graf, bekannt
durch ritterlich Walten im Schweizerland;
Euch blühen sechs liebliche Töchter.
So mögen sie, rief er begeistert aus,
sechs Kronen Euch bringen in Euer Haus,
und glänzen die spät'sten Geschlechter."
Und mit sinnendem Haupt saß der
Kaiser da,
als dächt' er vergangener Zeiten;
jetzt, da er dem Sänger in's Auge sah,
da ergreift ihn der Worte Bedeuten.
Die Züge des Priesters erkennt er schnell
und verbirgt der Thränen stürzenden
Quell
in des Mantels purpurnen Falten.
Und alles blickte den Kaiser an
und erkannte den Grafen, der das gethan,
und verehrte das göttliche Walten.