1861 -
Eisleben Leipzig
: Klöppel G. E. Schulze
- Autor: Westermeier, Franz Ä. Bogislav
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 9
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Reformiert
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53. Franziska.
In einem unscheinbaren Dörfchen am Rhein saß eines
Abends, als es schon dunkeln wollte, ein armer junger
Mann, ein Weber, noch an dem Webstuhl und dachte
während der Arbeit unter andern an den König Hiskias,
hernach an Vater und Mutter, denen ihr Lebensfaden auch
schon von der Spule abgelaufen war, hernach an den Groß-
vater selig, dem er einst auch noch auf den Knieen gesessen
und an das Grab gefolgt war, und war so vertieft in sei-
nen Gedanken und in seiner Arbeit, daß er gar Nichts davon
merkte, wie eine schöne Kutsche mit vier stattlichen Schim-
meln vor seinem Häuslein anfuhr und stille hielt. Als aber
Etwas an dem Schlosse der Thür drückte, und ein holdcö ju-
gendliches Wesen trat herein von weiblichem Ansehen mit wal-
lenden schönen Haarlocken, und in einem langen himmelblauen
Gewand; und das freundliche Wesen fragte ihn mit mildem
Ton und Blick: „Kennst Du mich, Heinrich?" da
war ihm, als ob er aus einem tiefen Schlaf aufführe, und
war so erschrocken, daß er nicht reden konnte. Tenn er
meinte, es sei ihm ein Engel erschienen, und es war auch
so Etwas von der Art, nämlich seine Schwester Franziska,
aber sie le-bte noch. Einst hatten sie manches Körblein voll
Holz barfmß mit einander aufgelesen, manches Biusenkörbchen
voll Erdbeeren am Sonntag mit einander gepflückt und in
die Stadt getragen, und auf dem Heimwege ein Stücklcin
Brot mit einander gegessen, und Jedes aß Wenig davon, da-
mit das Andere genug bekäme. Als aber nach des Vatrrs
Tode die Armuth und das Handwerk die Brüder aus der
elterlichen Hütte in die Fremde geführt hatte, blieb Fran-
ziska allein bei der alten gebrechlichen Mutter zurück, und
pflegte ihrer also, daß sie dieselbe von dem kärglichen Ver-
dienst ernährte, den sie in einer Spinnfabrik erwarb, und
in den langen schlaflosen Nächten mit ihr wachte und aus
einem alten zerrissenen Buche aus Holland erzählte, von den
schönen Häusern, von den großen Schiffen, von der grau-
samen Seeschlacht bei Doggersbank, und ertrug das Alter
und die Wunderlichkeit der kranken Frau mit kindlicher Ge-
duld. Einmal aber früh um zwei Uhr sagte die Mütter:
„Bete mit mir, meine Tochter. Diese Nacht hat für mich
keinen Morgen mehr auf dieser Welt!" Da betete und
schluchzte und küßte das arme Kind die sterbende Mutter,
und die Mutter sagte: „Gott segne dich und sei" — und