1861 -
Eisleben Leipzig
: Klöppel G. E. Schulze
- Autor: Westermeier, Franz Ä. Bogislav
- Hrsg.: ,
- Auflagennummer (WdK): 9
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Reformiert
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nahm die letzte Hälfte ihres Muttersegens: „und sei dein
Begleiter!" mit sich in die Ewigkeit. Als aber die Mutter
begraben und Franziska in das leere Haus zurückgekommen
war, und betete und weinte, und dachte, was jetzt aus ihr
werden solle, sagte Etwas in ihrem Inwendigen zu ihr;
„Geh nach Holland!" und ihr Haupt und ihr Blick
richtete sich langsam und sinnend empor, und die letzte Thrä-
ne für diesmal blieb ihr in dem blauen Auge stehen. Als
sie von Dorf zu Stadt, und von Stadt zu Dorf betend und
bettelnd und Gott vertrauend nach Holland gekommen war,
und so Viel ersammelt hatte, daß sie sich ein sauberes Kleid-
lein kaufen konnte, in Rotterdam, als sie einsam und ver-
lassen durch die wimmelnden Straßen wandelte, sagte wieder
Etwas in ihrem Inwendigen zu ihr: „Geh in selbiges
Haus dort mit den vergoldeten Gittern am
Fenster." Als sie aber durch den Hausgang an der mar-
mornen Treppe vorbei in den Hof gekommen war, denn sie
hoffte zuerst Jemand anzutreffen, ehe sie an einer Stuben-
thür anpochte, da stand eine betagte freundliche Frau von
vornehmem Ansehen in dem Hofe, und fütterte das Geflü-
gel, die Hähne, die Tauben und die Pfauen.
„Was willst Du hier, mein Kind?" Franziska faßte
ein Herz zu der vornehmen freundlichen Frau, und erzählte
ihr ihre ganze Geschichte. „Ich bin auch ein armes Hühn-
lein, das Eures Brotes bedarf," sagte Franziska, und bat
sie um Dienst. Die Frau aber gewann Zutrauen zu der
Bescheidenheit und Unschuld und zu dem nassen Auge des
Mädchens, und sagte: „Sei zufrieden, mein Kind, Gott
wird Dir den Segen Deiner Mutter nicht schuldig bleiben.
Ich will Dir Dienst geben und für Dich sorgen, wenn Du
brav bist." Denn die Frau dachte: „Wer kann wissen, ob
nicht der liebe Gott mich bestimmt hat, ihre Vergelterin zu
sein!" und sie war eines reichen Rotterdamer Kaufmanns
Wittwe, von Geburt aber eine Engländerin. Also wurde
Franziska zuerst Hausmagd, und als sie gut und treu er-
funden ward, wurde sie Stubenmagd, und ihre Gebieterin
gewann sie lieb, und als sie immer feiner und verständiger
wurde, wurde sie Kammerjungfer. Aber jetzt ist sie noch nicht
Alles, was sie wird. Im Frühling, als die Rosen blühten,
kam aus Genua ein Vetter der vornehmen Frau, ein junger
Engländer, zu ihr auf Besuch nach Rotterdam, er besuchte
sie fast alle Jahre um diese Zeit, und als sie Eins und das
Andere hinüber und herüber redeten, und der Vetter er-