1839 -
Reutlingen
: Fischer
- Autor: Gebauer, Christian August
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
r
— 54 —
Nun wurden, nachdem man sich sacht aus dem
Hause geschlichen hatte, die Vlumengeflechte aus dem
Garten heraufgeholt. Der Thau der Nacht hatte köst-
liche Perlen darauf gestreut, die im aufgehenden Son-
nenlicht hell funkelten; Blätter und Blumen, alles war
so frisch, als ob man cs eben erst gebrochen hatte. Deß
freuten die Kinder sich innig. Sie trugen ihren Schmuck
nun so behutsam als möglich hinauf, und zierten damit
zuvörderst des Vaters Lehnsessel und sein Schreibpult;
dann ward der Mutter Arbeitstischchen geschmückt. Fritz
und Heinrich befestigten Blumengewinde an beiden Thü-
ren, damit die herein tretenden Äcltcrn, wie durch eine
Ehrenpforte gierigen, „Aber auch der Mutter Heilig-
thum, die Küche, darf nicht vergessen werden!" bemerkte
Marie, als das Zimmer völlig ausstasfirt war, und nun
ward auch diese auf das unmuthigste mit den Kindern des
Lenzes bekränzt. Alles war trefflich gelungen, und die
Acltcrn schlummerten noch immer. Da holte Marie die
kleine Schwester sacht herbei, und Bertha konnte sich
nicht genug über die Pracht und Herrlichkeit verwundern.
Alle kleideten sich hierauf festlich an. Als das ge-
schehen war, traten sie an das Schlafzimmer der Ael-
tern, öffneten die Thür leise, und begannen ein Lied zu
singen, das ihnen der Herr Pfarrer Gotthold für den
festlichen Tag gedichtet hatte. Da erwachte Vater und
Mutter mit herzlicher Freude über den schönen Gesang,
und als er zu Ende war, umschlang Fritz der Mutter,
Marie aber des Vaters Stirn mit einem Kranze auser-
lesener Blumen. Dann küßte und umarmte Jedes die
geliebten Aeltern und ward von ihnen in die Arme ge-
schlossen und an das Herz gedrückt. Das war eine Lust,
die sich mit Worten nicht beschreiben läßt, die aber jedes
gute Kindesherz im Stillen nachfühlen kann.