1854 -
Stuttgart
: Hallberger
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Evangelische Volksschule
- Regionen (OPAC): Württemberg
- Inhalt Raum/Thema: Deutsche Literatur
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Evangelisch-Lutherisch
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es ist doch nur ein körperlicher Schmerz; hat er aber einmal Frau und Kin-
der, dann brennen ihm die Thränen, die der Hunger seinen Lieben auspreßt,
wie Feuer auf die Seele, die Noth wird dann ein den innern Menschen fast
erdrückender, Herz durchbohrender Schmerz.
In dieser Lage war der arme H. Die gute Frau, von langer Noth
und Kummer krank, das Töchterchen, die einzige Person in der Familie, die
seit einigen Tagen ein wenig Brod bekommen hatte, auf der Thürschwelle
sitzend und vor Hunger weinend. Der Vater, der wohl vor Mattigkeit kaum
mehr aufrecht stehen konnte, drängt sein bleichgehärmtes Gesicht ans Fenster
und sieht hinaus. Aber draußen war finstere Nacht und sehr starker Regen
und Sturm; in seinem Herzen sprach es immer: ohne Hülfe, ohne Hülfe! Da
wurde das geängstete, zerschlagene Herz auf einmal von seinen Banden frei,
es konnte recht innig und mit tausend milden Thränen zu dem flehen und
um Hülfe seufzen, der unsere Zuversicht und Zuflucht noch sein will, wenn
keine Menschenhülfe mehr nützen kann. — Aber wer soll ihm denn noch
heute, und sein Herz mußte in dieser äußersten Noth bitten „noch heute", in
diesem Regenwetter und Sturm Brod bringen?
Da kommt auf einmal noch Jemand auf der finstern, steilen Treppe
herauf, sucht an der Thüre, cs war der Hausknecht aus dem gegenüberstehen-
den Gasthof. Ein dort liegender Fremder hatte einen Schneider begehrt,
der ihm schnell, noch in dieser Nacht, ein Paar Beinkleider fertigen sollte;
der Hausknecht hatte in dem schlimmen Wetter nicht erst weit nach einem ihm
bekannten Meister gehen mögen und rief denn den armen H.
Da dieser zu dem Fremden in seiner armen Kleidung und mit seiner von
langem Kummer schüchtern gewordenen Miene hineintritt, mißt ihn der mit
großen Augen, fragt ihn, ob er sichs wohl getraue, das verlangte Kleidungs-
stück zu fertigen, er (der Fremde) sei überaus eigensinnig, und ihm habe noch
kaum ein berühmter Meister Kleidungsstücke dieser Art zur vollen Zufrieden-
heit, und doch auch mit der nöthigen Bequemlichkeit gefertigt. Das dazu
bestimmte Tuch sei sehr fein und theuer, es sei deßhalb sehr schade, wenn
es verdorben würde, er wolle ihm lieber einige Groschen dafür geben,
daß er sich herbemüht habe, und einen andern Meister rufen lassen. Der
arme, in seinem Handwerk wirklich geschickte H. fühlt sich über jenen
Mangel an Zutrauen tief gekränkt, versichert, er wolle den Fremden
wohl zufriedenstellen, und dieser gibt ihm das Tuch mit der Aeußerung:
nun, er wolle das nur einmal an eine sehr wahrscheinlich mißlingende
Arbeit wagen.
Die Liebe gibt dem armen, aus Hunger sehr müden H. Kraft, die ganze
Nacht durchzuarbeiten. Er sitzt ja bei dem Bette seiner lieben Frau und