1853 -
Frankfurt
: Trowitzsch
- Autor: Woysche, Eduard, Baumgart, Fr.
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Elementarschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Elementarschule, Landschule, Stadtschule
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Erfahrung hält freilich eine theure Schule; es ist aber die ein-
zige, in welcher Thoren Etwas lernen. Denn einen guten
Rath kann man wohl geben, aber nicht eine gute Aufführung.
Wer sieh nicht rathen lässt, dem ist auch nicht zu helfen. Und:
Wer nicht hören will, der muss fühlen. —
118. Knnnitvcrstaii.
Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, Betrachtungen über den Unbe-
stand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden
mit seinem Schikksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der
Luft herumfliegen. Aber auf dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher
Handwerksbursche in Amsterdam durch den Irrthum zur Wahrheit und zu ihrer
Erkenntniss. Denn als er in diese grosse und reiche Handelsstadt, voll präch-
tiger Häuser, wogender Schiffe und geschäftiger Menschen gekommen war,
fiel ihm sogleich ein grosses und schönes Haus in die Augen, wie er auf seiner
ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis Amsterdam noch keines erlebt hatte.
Dange betrachtete er mit Verwunderung dieses kostbare Gebäude. Endlich
konnte er sich nicht enthalten, einen Vorübergehenden anzureden. „Guter
Freund,“ redete er ihn an, „könnt ihr mir nicht sagen, wie der Herr heisst,
dem dies wunderschöne Haus gehört?“ — Der Mann aber, der vermuthlich
etwas Wichtigeres zu thun hatte und zum Unglükk gerade so viel von der
«leutscheu Sprache verstand, als der Fragende von der holländischen, nämlich
Nichts, sagte kurz und schnauzig: „Kannitverstan;“ und schnurrte vorüber.
Diess war ein holländisches Wort, oder drei, wenn man’s recht betrachtet, und
heisst auf deutsch so viel, als: ich kann euch nicht verstehen. Aber der gute
Fremdling glaubte, es sei der Name des Mannes, nach dem er gefragt hatte.
Das muss ein grundreicher Mann sein, der Herr Kannitverstan, dachte er, und
ging weiter. Guss aus, Gass ein, kam er endlich an den Meerbusen, der da
heisst: Ilet Ey, oder auf deutsch: das Ypsilon. Da stand nun Schiff an Schiff,
und Mastbaum an Mastbaum; und er wusste anfänglich nicht, wie er cs mit
Seinen zwei eigenen Augen durehsechten sollte, alle diese Merkwürdigkeiten genug
zu sehen und /.u betrachten; bis endlich ein grosses Schiff seine Aufmerksamkeit
an sich zog, das vor Kurzem aus Ostindien angelangt war und jetzt eben aus-
geladen wurde. Schon standen Reihen von Kisten und Ballen auf- und neben-
einander am Lande. Noch immer wurden mehrere herausgewälzt, und Fässer
voll Zukker und Kaffee, voll Rciss und Ffeffor. Als er aber lange zugesehen
hatte, fragte er endlich Einen, der eben eine Kiste auf der Achsel heraustrug,
wie der glükkliche Mann heisse, dem das Meer alle diese Waaren an das Land
bringe. „Kannitverstan,“ war die Antwort. Da dachte er: Haha, schaut’s da
heraus? Kein Wunder! Wem das Meer solche Reichthümer an das Land
schwemmt, der hat gut solche Häuser in die Welt stellen. Jetzt ging er wieder
zuriikk und stellte eine recht traurige Betrachtung bei sich selbst an, was er
für ein armer Mensch sei unter so viel reichen Leuten in der Welt. Aber als
er eben dachte: wenn ich’s doch nur auch einmal so gut bekäme, wie dieser
Herr Kannitverstan es hat, — kam er um eine Ekkc und erblikktc einen grossen
Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls schwarz
überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie wüssten, dass sie
einen Todten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug von Freunden und Be-
kannten des Verstorbenen folgte nach, Paar an Paar, verhüllt in schwarze
Mäntel und stumm. In der Ferne läutete ein einsames Glökklein. Jetzt ergriff
unsern Fremdling ein wehmüthiges Gefühl, das an keinem guten Menschen