1850 -
Leipzig
: Wöller
- Autor: Winter, Georg Andreas
- Auflagennummer (WdK): 3
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Landschule, Stadtschule
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Da erschien das Jahr 1848. Niemand ahnete — obwohl scharf-
blickenden Männern nicht unverborgen sein konnte, daß sich bald
hochwichtige Begebenheiten ereignen müßten — daß es so große, so
tiefeingreifende Ereignisse bringen würde. Frankreich, oder richtiger
Frankreichs Hauptstadt, „Paris" war es wieder, das, wie 59 Jahre
früher, den Reigen eröffnete. Binnen 24 Stunden (den 23. und
24. Februar) stürzte es eine der mächtigsten Monarchien Europa's
und verwandelte sie in eine Republik. Ludwig Philipp, seit
1830 König von Frankreich, hatte nämlich seit Jahren, nur um die
Herrschaft seines Hauses über Frankreich zu befestigen, mehre gerechte
und gegründete Wünsche des französischen Volkes (ein besseres Wahl-
gesetz, Verminderung des großen Heeres königlicher Beamter rc.)
unerfüllt gelassen. Da kam es am 22. Febr. zwischen Volk und
Regierung zu einem Zusammenstoße. Zeitiges und kluges Nach-
geben Seiten des Königs würde das Zerwürfniß sofort ausgeglichen
haben. Doch der König folgte falschen Rathgebern. Er gab nicht
nach. Am 23. Febr. nahmen die Unruhen schon einen bedenklichen
Charakter an. Auf den Straßen von Paris floß bereits Bürger-
blut. Der König machte Zugeständnisse und schon schien alles aus
dem Punkte zu einer allgemeinen Aussöhnung zu sein. Da wollte
ein furchtbares Mißgeschick, daß in den Abendstunden des 23. Febr.
von einer Abtheilung Militair, die den Palast des Ministers des
Auswärtigen besetzt hielt, auf einen Volkshausen geschoffen wurde,
weil der Oberst des Militairs glaubte, das Volk beabsichtige einen
Angriff auf den Palast des Ministers. Dieses unheilvolle Feuern
der Soldaten gab dem Zustande der Dinge eine furchtbare Wendung.
Der Volkshaufe zerstreute sich wuthentbrannt durch alle Straßen von
Paris und schrie: „Zu den Waffen! Verrath! Verrath!" Die
Sturmglocken ertönten, Trommeln wirbelten, Tausende von Fackeln
erleuchteten die Nacht, Barrikaden wurden errichtet, das Straßen-
pflaster wurde von der wüthenden Menge aufgerissen, und als der
Morgen des 24. Februars anbrach, hatte sich der Volksauflauf in
eine — Revolution verwandelt. Der König gewährte nun die
Umgestaltung des Wahlgesetzes, aber — es war „zu spät!"
Jetzt weigerten sich auch mehre Regimenter, noch länger auf das Volk
zu schießen. Die Kanonen verstummten und fast sämmtliche Trup-
pen übergaben ihre Waffen dem Volke. Das Volk tobte dem könig-
lichen Schlosse zu. Gegen Mittag entsagte der König der Krone zu
Gunsten seines Enkels, des Grafen von Paris, eines zehnjährigen
Knaben, unter der Regentschaft der Herzogin von Orleans (Mutter
des Grafen von Paris). Auch diese Zugeständnisse kamen — „zu
spät!" Der König und seine Gemahlin verließen in Eile das
Schloß, flohen aus Paris und kamen nach mehrern Tagen in Eng-