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- S. 510
1856 -
Breslau
: Leuckart
- Autor: Rendschmidt, Felix
- Hrsg.: Kühn, Franz
- Auflagennummer (WdK): 211
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Stadtschule, Landschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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Gedichte und andere Lesestücke.
Der Löwe zu Florenz.
„Derlöw'ist los! Der Löw' ist frei! Die eh'rnen Bande sprengt'
er entzwei! Zurück! daß ihr den vergeblichen Muth nicht schrecklich
büßet mit eurem Blut!"
Und jeder suchte mit scheuer Eil' im Innern des Hauses Schutz
und Heil; auf Markt und Straßen, rund urüher ward's Plötzlich
still und menschenleer.
„ Ein Kindlein nur, sein unbewußt, verloren in des Spieles
Lust, fern von der sorglichen Mutter Hand, saß auf dem Markt am
Brunnenrand.
Wohl viele sah'n von oben herab, sie schauten geöffnet des Kind-
leins Grab; sie rangen die Hände und weinten sehr und blickten
zagend nach Hilf' umher.
Doch keiner wagt das eigene Leben um des fremden willen da-
hin zu geben; denn schon verkündet ein nahes Gebrüll das Verderben,
das Jedermann meiden will.
Und schon mit der rollenden Augen Gluth erlechzet der Löwe des
Kindleins Blut; ja, schon erhebt er die grimmigen Klau'n — o qual-
voll, herzzerreißend zu schau'n!
So rettet nichts das zarte Leben, dem gräßlichen Tode da-
hin gegeben? — Da plötzlich stürzet aus einem Haus mit fliegenden
Haaren ein Weib heraus.
„Um Gottes Willen, o Weib, halt' ein! Willst du dich selbst
dem Verderben weih'n? Unglückliche Mutter! Zurück den Schritt!
Du kannst nicht retten, du stirbst nur mit!"
Doch furchtlos faßt sie den Löwen an, und aus dem Rachen mit
scharfem Zahn nimmt sie das unversehrte Kind in ihren rettenden Arm
geschwind.
Der Löwe stutzet, und unverweilt mit dem Kinde die Mutter von
dannen eilt; da erkannte gerührt, so Jung wie Alt, des Mutterher-
zens Allgewalt. —
Und des Löwen großmüth'gen Sinn zugleich; doch manche Mut-
ter, vom Schrecken bleich, sprach still: „Um deö eigenen Kindes Le-
den hätt' ich auch meines hingegeben!"
Das Lied vom Samenkorne.
Ein Säemann streut aus voller Hand den Samen auf das weiche
Land; und wundersam! was er gesä't, das Körnlein wieder aufersteht.
Die Erde nimmt es in den Schooß und wickelt es im Stillen
los; ein zartes Keimlein kommt hervor und hebt sein röthlich Haupt
empor.
Es steht und frieret, nackt und klein, und fleht um Thau unv
Sonnenschein; die Sonne schaut von hoher Bahn der Erde Kindlein
freundlich an.