1836 -
Leipzig
: Wigand
- Autor: ,
- Hrsg.: Schwabe, Karl Ludwig, Jürn, Alexander Bernhard
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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wahrer Tiger in Menschengestalt, war von einer heldenmüthi-
gen Jungfrau, die das Unglück und die Schande ihres Vater-
landes nicht mehr ertragen mochte, mit eigener Aufopferung im
Bade ermordet worden. Zu jeder andern Zeit und unter je-
dem andern Volke würde man den Tod eines solchen Wüthe-
richs als ein glückliches Ereigniß betrachtet haben. Hatte er
doch öffentlich in einer Zeitschrift, die er selbst herausgab, wie-
derholt erklärt, daß um die Freiheit zu befestigen, noch 300,Ooo
Köpfe fallen müßten; war doch aufsein Anstiften die Ermor-
dung vori mehr als 6000 Gefangenen in allen Gefängnissen von
Paris binnen einer Zeit von drei Tagen erfolgt und hatte doch
er insbesondere die Hinrichtung des unglücklichen und vortreff-
lichen Königs betrieben. Schon um dieser Verbrechen willen
hatte er tausendfachen Tod und ewigen Abscheu verdient. Aber
vielleicht besaß er ein Furcht gebietendes Aeußere oder streng re-
publikanische Tugend? Nichts weniger als das! In seinem
unansehnlichen, äußerst vernachlässigten Körper wohnte eine schmu-
tzige Seele. Auf sein bleiches verzerrtes Gesicht waren alle Lei-
denschaften, denen er sich ohne Rückhalt hingab, mit unverkenn-
baren Zügen geschrieben. .Auch wenn ihn nicht der Dolch der
Rache getroffen hatte, wäre er in kurzer Zeit ein Opfer seiner
Ausschweifungen geworden. Und dennoch war ec der Abgott
der Maffe des französischen Volkes, das vielleicht durch nichts
semen Wahnsinn deutlicher an den Tag gelegt hat, als durch
Dmrat's Vergötterung. Kaum war die Ermordung Marat's
ruchbàr geworden, als das Volk in ausgelassenem, wildem
Schmerze durch die Straßen lief und die Mörderin zerreißen
wollte. Nur mit Mühe wurde sie den Händen der wüthenden
Menge entrissen, um auf dem Schaffotte ihr Leben zu enden.
Dagegen wurden dem Ermordeten Ehrenbezeigungen ohne Glei-
chen gespendet. Die prächtigsten Namen aus der alten Ge-
schichte, selbst der Name eines Sokrates, wurden demwütherich
beigelegt, der ungesättigt von dem Blute von 6000 Gefangenen
noch unaufhörlich bis zum Aushauche seines verruchten Lebens
300,000 Köpfe verlangt hatte. Sein scheußlicher, vom Gifte
ekelhafter Krankheiten zerfressener Leichnam wurde mit ei-
nem nassen Tuche bedeckt, um den Augenblick seines Todes zu
veranschaulichen, in einer der Hauptkirchen von Paris ausge-
stellt^ und vom ganzen National-Convente, damals der höchsten
Behörde in Frankreich, zu Grabe begleitet. Sein Brustbild
wurde nicht nur in Paris, sondern in allen Städten und Dör-
fern auf öffentlichen Plätzen aufgestellt und mußte bei allen
vom Freiheilsschwindel angeordneten Festen von der Jugend bei-
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