1864 -
Mainz
: Kirchheim
- Autor: Kieffer, Franz Xaver
- Auflagennummer (WdK): 2
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
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50. Bewegung der Erde.
Wie geht es nun aber zu, daß die Erde, die doch eine Kugel ist, an allen
Seiten erleuchtet und erwärmt wird, und daß wir die Sonne bald höher, bald
niedriger am Himmel stehen sehen, oder mit andern Worten, Tag und Nacht,
Sommer und Winter haben?
Urtheilet ihr nach dem Augenscheine, so werdet ihr sagen: „Die Sonne
läuft um die Erde; denn Morgens sehen wir sie im Osten auf-, Abends im
Westen untergehen, und am folgenden Morgen kommt sie wieder an dem ent-
gegengesetzten Punkte im Osten hervor. Sie hat aber das Jahr hindurch nicht
ganz dieselbe Bahn, sondern kommt die eine Halste des Jahres immer höher
am Himmel herauf, und die andere Hälfte bleibt sie in demselben Verhältnisse
immer weiter zurück."
Allein dies ist eine bloße Täuschung. Nicht die Sonne läuft um die
Erde, — die Sonne steht an ihrem Orte still und dreht sich nur immer um
sich selbst herum, — sondern die Erde läuft um die Sonne, indem sie sich da-
bei immer um sich selbst dreht. Gelehrte Männer haben dies freilich erst vor
etwa 300 Jahren herausgebracht und durch mancherlei Gründe außer Zweifel
gesetzt. Ihr werdet nicht sagen: „Wir sehen doch mit unsern Augen die Sonne
sich bewegen," wenn ihr euch ähnlicher Erscheinungen erinnert, bei welchem
ihr die Täuschung zu erkennen im Stande seid. Seid ihr wohl schon einmal
auf einem Schifflein gefahren, welches saust und ruhig auf dem glatten Was-
serspiegel dahin schwanrnl? Wenn ihr da auf dem Boden des Kahnes oder
auf einen euch gegenüber Sitzenden sahet, kam es euch nicht vor, als wenn das
Schiff mit euch still stände, und schautet ihr hinaus nach den Bäumen und
Sträuchern des Ufers, sah es nicht aus, als wenn sie davon liefen. Eben so
ist es mit der Erde und der Sonne. Weil Alles auf der Erde. sich mit dreht,
und die Bewegung rasch und ohne Hinderniß vor sich geht, merken wir Nichts
davon, und wir meinen, die Sonne bewege sich.
Tag und Nacht, Sommer und Winter entstehen also durch die Bewegung
der Erde. Diese ist, wie schon angedeutet, eine zweifache: 1) bewegt sie sich
um sich selbst und 2) um die Soune. Denken wir uns die Erde mit ihrer ku-
gclähnlichen Gestalt in ihrer Umdrehung von Westen nach Osten, so können
wir zwei entgegengesetzte Punkte auf ihr bezeichnen, zwischen welchen gleichsam
sie sich umdreht. Diese beiden Punkte nennt man die Pole, den Nord- und
den Südpol. Von einem Pole zum andern denkt man sich eine Linie mitten
durch die Erde gezogen, und diese heißt die Erdachse. Wiederum denkt man
sich eine Linie, die um die ganze Erde läuft, von jedem Pole gleichweit ent-
fernt, und dies ist der Aeguator oder Gleicher, von den Schiffern die
Linie genannt. Stände die Erde still, so könnte, da auch die Sonne nicht um
sie herum läuft, immer nur eine Seite derselben erleuchtet sein, und die Men-
schen, welche auf der gegen die Sonne gerichteten Hälfte wohnten, hätten im-
mer Tag, die auf der andern Seite lebenden immer Nacht. Aber die Weisheit