1853 -
Essen
: Bädeker
- Autor: Haesters, Albert
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Vaterländische Geschichte
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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Orinoco, liegt die unter den Indianern weit berufene Höhle von
Ataruipe. Die Gegend umher hat einen großen und ernsten Natur-
charakter, die sie wie zu einem Nationalbegräbnisse eignet. Man er-
klimmt mühsam, selbst nicht ohne Gefahr in eine große Tiefe hinabzu-
rollen, eine steile, völlig nackte Granitwand. Kaum ist die Kuppe er-
reicht, so wird man durch eine weite Aussicht über die anliegende Ge-
gend überrascht. Aus dem schäumenden Flußbette erheben sich mit Wald
geschmückte Hügel. Jenseit des Stromes, über das westliche Ufer hin-
weg, ruht der Blick auf einer unermeßlichen Grasflur. Am Horizont
erscheint, wie ein drohend aufziehendes Gewitter, das Gebirge Uni am a.
So die Ferne; nahe umher ist alles öde und eng. Im tief gefurchten
Thale schweben einsam die Geier. An der nackten Felswand schleicht
ihr schwindender Schatten hin. Dieser Kessel ist von Bergen begrenzt,
deren Gipfel ungeheure Granitkugeln tragen. Der Hintere Theil des
Felsthales ist mit dichtem Laubholz bedeckt. An diesem schattigen Orte
öffnet sich die Höhle von Ataruipe: eigentlich nicht eine Höhle, son-
dern ein Gewölbe, eine weit überhangende Klippe, eine Bucht,
welche die Wasser, als sie einst diese Höhle erreichten, ausgewaschen
haben. Dieser Ort ist die Gruft eines vertilgten Volkstammes. Wir
zählten ungefähr 600 wohlerhaltene Skelette in eben so vielen Kör-
den , die von den Stielen des Palmenlaubes gestochten sind. Unsere
Dolmetscher konnten keine sichere Auskunft über das Alter dieser Ge-
fäße geben. Die mehrsten Skelette schienen indeß nicht über hundert
Jahre alt zu sein. Es geht die Sage unter den Guaraca-Jndi-
anern, die tapfern Aturer haben sich, von menschenfreffenden Karai-
b en*) bedrängt, auf die Klippen der Wasserfälle gerettet; ein trauriger
Wohnsitz, in welchem der bedrängte Völkerstamm und mit ihm seine
Sprache unterging. In dem unzugänglichsten Theile des Wasserfalles
befinden sich ähnliche Grüfte; ja es ist wahrscheinlich, daß die letzte
Familie der Aturer spät erst ausgcstorben sei. Denn in Maypures
lebt noch ein alter Papagei, von dem die Eingebornen behaupten, daß
man ihn darum nicht verstehe, weil er die Sprache der Aturer rede.
Kalt und starr, als ob sein Bildniß Fortgedrängt aus seinen Landen,
Aus dem Stein gehauen sei. Floh es diesen Klippen zu.
Schäumend drängt durch Felsendämme Und es starben die Aturen
Äs. Der Aturen-Papagei
In der Orinoco-Wildniß
Sitzt ein alter Papagei,
Unten wo die Wogen branden,
Hält ein Volk die ew'ge Ruh;
Sich des Stroms zerriss'ne Fluth
Drüber wiegen Palmenstämme
Sich in heit'rer Sonncngluth.
Wie sie lebten frei und kühn;
Ihres Stammes letzte Spuren
Birgt des Uferschilfes Grün.
In den Wasserstaub verwebet
Sich der Sonne Farbenspiel.
Wie hinein die Welle strebet,
Nie erreichet sie das Ziel;
Der Aturen allerletzter
Trauert dort der Papagei;
Am Gestein den Schnabel wetzt er,
Durch die Lüfte tönt sein Schrei.