1855 -
Mainz
: Kirchheim
- Autor: Hepp, J.
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Katholische Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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spiele unseres Heilandes an diesem Tage die Füsse wusch.
Seit zwei Jahren hatte ihre Schwächlichkeit sie verhindert, im
Schlosse zu erscheinen. Sie liess der Kaiserin sagen, es thue
ihr ausserordentlich leid, dass sie sich bei dieser frommen Ce-
remonie nicht habe einfinden können, und zwar nicht sowohl
wegen der Ehre, die sie dort zu erwarten gehabt hätte, als
vielmehr desswegen, weil sie dadurch des Glücks beraubt wor-
den sei, eine so hochverehrte Fürstin zu sehen. Die Fürstin,
durch die Gesinnung dieser guten, alten Frau gerührt, begab
sich selbst nach dem Dorfe , wo sie wohnte. Sie scheuete sich
nicht, in die elende Hütte zu gehen. Sie fand die Alte auf
einem Bette hingestreckt, auf welches ihre Schwachheit, die
unzertrennliche Gefährtin ihres Alters, sie gefesselt hielt. «Es
thut Euch also leid,» redete die grossmüthige Kaiserin sie an,
«dass ihr mich nicht gesehen hal t. Tröstet euch, meine Liebe I
ich komme jetzt, um euch zu besuchen.» Sie wurde durch
die Lage und den Blick der alten Frau sehr gerührt, welche
nur darüber seufzte, dass sie nicht von ihrem Bette aufstehen
konnte, um ihr zu Füssen zu fallen. Die Kaiserin 'unterhielt
sich eine Zeitlang mit ihr und liess bei ihrem Abschiede eine
Summe Geldes zurück, um ihr die nöthigen Bequemlichkeiten
zu verschaffen.
71. Der großmüthige Indianer.
Ein Indianer verirrte sich auf der Jagd bis an die Grenzen des
bebauten Landes, wo ein Europäer eine große Pflanzung hatte. Eben
saß dieser gemächlich vor der Thüre, als der Indianer ganz erschöpft sich
näherte und um eine Labung bat. Sie ward ihm trotzig abgeschlagen.
„Nur einen Trunk Wasser!" stammelte der Müde. „Pack dich von dan-
nen, du indianischer Hund," war die Antwort, „du bekommst Nichts!"
Mißmuthig entfernte sich der Indianer.
Nach einiger Zeit stellte der Europäer eine Jagd an. Hitzig verfolgte
er ein Wild in den großen Waldungen und verlor sich ganz von seiner
Gesellschaft. Den ganzen Tag irrte er umher, ohne einen Menschen, ohne
eine Hütte zu sehen. Erst bei sinkender Sonne erblickte er von Weitem die
Hütte eines Wilden. Müdigkeit, Hunger und Durft zwangen ihn, hier
Hülfe zu suchen. Seine Bitte war, man möchte ihn zur nächsten Pflan-
zung führen. „Die ist," antwortete der Wilde, „zu weit von hier, als
daß wir noch heute hinkommen könnten. Bleib hier und erquicke dich und
ruhe aus, bis die Sonne wieder scheint. Dann will ich dich sicher führen,
wohin du willst."
Der Europäer mußte das Erbieten annehmen, und der Wilde bewir-
thete ihn freundlich, bereitete ein weiches Lager und gab ihm die Versiche-
rung, daß er sorglos schlafen könne. Nach genommenem Frühstück machten
sie sich am andern Morgen mit einander auf den Weg, wo dann der Wilde
seinen Gast treulich bis zum Gebiete der Pflanzung führte. Als nun der
Pflanzer Abschied nehmen wollte, sprach zu ihm der Wilde : „Sich mich
zuvor noch recht an! Kennst du mich?" Furchtsam verneinte es Jener.
„Nun, so wisse," erklärte der Sohn des Waldes, „daß ich der indianische