1855 -
Mainz
: Kirchheim
- Autor: Hepp, J.
- Auflagennummer (WdK): 5
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrbuch, Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Katholische Volksschule
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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laufen, wie einen Affen, und mißhandelten es, bis es starb. Ach,
welch ein Jammergeschrei der unglücklichen Kleinen und ihrer El-
tern ! Oft erhaschten sie die Kleinen und hingen sie in Körben vop
die Fenster ihrer Riesenwohnungen. Da wehklagten die Eltern bei
dem traurigen Anblicke; da schrieen die Kleinen ihre Eltern um
Hülfe an, bis sie endlich verschmachteten." — „Ach Gott, Herr
Treu!" schrieen die meisten Kinder, „hören Sie auf, uns von
den abscheulichen Riesen zu erzählen." — Aber noch fuhr Herr
Treu fort:
„Bald rissen sie diesem ein Bein aus, bald jenem den Arm,
bald stachen sie diesem die Augen aus, bald rauften sie jenem die
Haare aus, daß das Blut darnach lief."
„Herr Treu! bester Herr Treu, wir müssen entlaufen, wenn
Sie nicht aufhören!"
• „Gut," sprach Herr Treu, „ich will denn aufhören, die Un-
menschlichkeiten zu beschreiben, ich könnte noch viel ärgere hinzu-
fügen. Aber nun ist die Reihe an Euch. Wer ist im Stande, den
Sinn dieses Mährchens zu finden?" Da legte dieser und jener die
Finger an die Nase; dieser und jener rieb sich die Stirne und ver-
deckte mit der Hand die Augen, wie man es zu machen pflegt, wenn
man über etwas nachdenkt. Aber keiner kam dem Sinn auf
die Spur.
Da stand Herr Treu auf und überschaute die Kinder, und von
ihnen vorzüglich die Knaben, dann sprach er: „Beinahe ihr allzu-
sammen könnt den Sinn des Mährchens nicht finden. Das macht
mir Freude. Vielleicht aber gibt es unter euch zwei oder drei, die
ihn finden, aber es nicht wagen, ihn frei herauszusagen. Gut! so
will ich es selbst thun:"
„Hört ihr den schönen Gesang der Waldbewohner! jetzt den
Finken, jetzt den Hänfling, jetzt die Nachtigall! — Seht die schö-
nen Schmetterlinge, die um uns herumflattern! Seht die goldenen,
die bunten Käfer, die am Boden und in dem Laubwerk umher-
kriechen! Hört ihr die Frösche dort unten im Sumpfe! — Setzt sie
einmal an die Stelle der vorhin beklagten Einwohner, über
welche die grausamen Riesen den Herrn spielten. Ihr aber
kommt mit mir! Wir wollen die Riesen sein! — Nun? —
was thut's denn weiter ? Wir zerstreuen uns in den Wald;
wir durchstreifen die Büsche; wir suchen die Wohnungen der
kleinen Waldbewohner; wir reißen ihre Nester unter den Zwei-
gen heraus; wir nehmen den Alten die Jungen, den Jungen
die Alten; wir spießen die Frösche; wir- zertreten die Kaser,
wo wir einen finden; wir fangen Fliegen und reißen dieser
die Flügel, jener die Beine aus u. s. w. Was meint Ihr? —
Sagt an!"
„Nein!" schrie fast der ganze Haufen: „wir wollen nicht sein,
wie die abscheulichen Niesen!"