1842 -
Oldenburg/Holstein
: Fränckel
- Autor: Detlefs, Heinrich
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Volksschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Inhalt Raum/Thema: Realienkunde
- Geschlecht (WdK): koedukativ
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23. Kains Klagen. -
Als Kain in dkl» Lande Nod wohnete, jenseits Eden gegen den Morgen,
saß er einrs Tages unter einer Terebinthe, und hielt sein Haupt aus seine
Hände gestützt, und seufzte. Sein Weib aber war hinausgegangen, ihn zu
suchen, und trug ihren Säugling aus den Armen. Als sic ihn nun gesunden
hatte, stand sie lange neben ihm, unter der Terebinthe, und hörte daö Scus-
zcn Kains. — Da sprach sie zu ihm: Kain, warum seufzest du, und ist
denn deines Jammers kein Ende? — Da crschrack er, hob sein Haupt empor,
und sprach: „Ach, bist du cs, Zilla? Siehe, meine Sünde ist größer,
denn daß sie mir vergeben werden möge!" — Und als er dieses gesagt hatte,
senkte er von neuem sein Haupt, und bedeckte seine Augen mit der hohlen
Hand. — Sein Weib aber sprach mit sanfter Stimme: Ach Kain, der Herr
ist barmherzig, und von großer Güte. — Alö Kain diese Worte hörete, da
crschrack er von neuem, und sprach: „O, soll auch deine Zunge mir ein
Stachel werden, der mir das Herz durchbohre!" - Sie aber antwortete: Das
sei fern von mir. So höre doch, Kain! und schaue um dich her. Blühen
nicht unsere Saaten, und haben wir nicht schon zweimal reichlich gecrndtrt?
Ist uns denn der Herr nicht gnädig, und thut uns niildiglich wohl? —
Mslitt antwortete: „Dir Zilla! und deinem Hanoch! Nicht mir! Ich erkenne
nur in seiner Güte, Ivic ferne ich von ihm war, alö ich Abel — erschlug." —
Da unterbrach ihn Zilla, und sprach: Bauest du denn nicht den Acker, und
streuest den Saamen in die Furche; und leuchtet dir nicht die Morgenröthe,
wie in Eden? Glänzet nicht der Thau an den Blumen und Halmen? — —
„Ach Zilla, mein armes Weib," erwiederte Kain, „ich sehe in der Morgenröthe
nur das blutende Haupt Abelö, und in'dem Thau hängt mir an jedem Halm
eine Thräne, und an jeder Blume ein blutiger Tropfen! Und wenn die
Sonne aufgehet erblicke ich hinter mir i» meinem Schatten Abel, de» Erschla-
genen, und vor mir mich selber, der ihn erschlug. — Hat nicht daö Nieseln
des Baches eine Stimme, die um Abel klaget, und schwebet mir nicht im Hauch
des kühlenden Windcö sein Odem entgegen? Ach, schrecklicher als das Wort
des Zürnens, das im Donner redete, und mir zurief: „Wo ist dein Bruder
Abel?" ist mir die leise Stimme, die mich überall umfleußt. — Und komiut
die Nacht — ach, sie umsähet mich, wie ein düsteres Grab, und um mich her
ist ein Todtenreich, das mich allein umschließt! — Nur der Mittag ist meine
Stunde; wenn die Sonne meinen Scheitel sengt, und mein Schweiß in die
Furchen tränst, und kein Schatten mich nmgiebt!" — Da sprach Zilla: O
Kai», mein Geliebter! Siehe, dort kommen unsere Lämmer! weiß wie die
Lilien des Feldes, und ihre Euter voll Milch, hüpfen sie fröhlich zur Hürde,
im Glanz der Abendröthc. — Kain sah mit stierem Blick, und rieft „Ach,
das sind Abels Schafe! Sind sie nicht roth von Abels Blut? Ihr Blöcke»
klaget um Abel! Ist eö nicht die Stimme deö Jammers? — Was könnte
den» Kain gehören?" — Da weinte Zilla und sprach: Bi» ich den» nicht
Zilla, dein Weib, die dich liebet? — Er aber erwiederter „Wie kannst du
Kain lieben, der sich selber nicht liebet? Was hast du von mir denn Thrä-
nen und Seufzen--------wie könntest du Kain liebe», der Abel erschlug? —
Da reichte sie ihm Hanoch dar, ihr Kindlein, und das Kind lächelte seinen
Vater an. Da warf sich Kain aus sein Angesicht, schluchzetc und ries: „Ach!
auch noch das Lächeln der Unschuld muß ich sehen! Es ist nicht das Lä-
cheln des Sohnes Kain — eö ist Abels Lächeln! — Es ist Abelö Lächeln,
den Kain erschlug !" — So rief er, und lag verstummend mit seiner Stirn
auf der Erde. Zilla aber lehnte sich an die Terebinthe, — denn sic zitterte
sehr — Und ihre Thränen stoffen aus die Erde.