1867 -
München
: Königl. Central-Schulbücher-Verl.
- Autor: Marschall, Georg Nicolaus
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten, Fortbildungsschule, Präparandenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten, Lehrerbildungsanstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Gewerbeschule, Handelsschule, Landwirtschaftsschule, Präparandenanstalt, Mittelschule
- Regionen (OPAC): Bayern
24. Der Rabe zu Merseburg.
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er als Bote für Geld von einem Hafen
zum andern, von einer Insel zur andern
geschickt. So lebte und nährte er sich,
so trieb er sich bei Bekannten und
Freunden um, Anfangs als Wunder an-
gestaunt, nachher als gewöhnlich und
nützlich betrachtet, bis sich nun der Tag
nahte, an welchem diese Kraft und Geschick-
lichkeit ihn in sein Verderben zogen.
Bei einem großen Feste in Messina,
bei welchem sich unter der großen Masse >
des Volkes auch der wunderbare Nicola I
eingefunden hatte, fiel der König darauf,
zu wissen, wie es wohl unten in dem
Grunde der bekannten Charybdis aus-
sehen möge, unter dem Strudel, welcher
schäumt und tobt, der in wiederkehrenden
Zeiträumen zum Theil verschluckt wird
und dann aus der Tiefe wieder nach
einer Pause emporbrauset. Nicola wei-
gerte sich lange, so viel Unglaubliches
er auch schon in seinem Leben unter-
nommen hatte, dieser Tiefe, in welcher
die Fluth nie zu rasen aufhört, sich an-
zuvertrauen. Er fürchtete, daß er sich
im Sturze dort in so enge Felsenriffe
verlieren könnte, daß es ihm unmöglich
würde, den Rückweg wieder zu finden.
Da warf der König einen Becher hinein
und Nicola, auf vielseitiges Zureden der
Umstehenden, die seine Eitelkeit reizten,
stürzte sich ihm nach. Nach einer Zeit
banger Spannung tauchte Nicola wieder
aus der Fluth, den Becher in der Hand.
— Der kühne Taucher erzählte von ganz
fremden und unbekannten Seeungeheuern,
die dort in der Tiefe wohnten zwischen
den engen und weitern Felsenriffen und
Schlünden, die wie ein ungeheures La-
byrinth sich dort unten ausstreckten, von
riesenhaften Polypen, welche in ungeheu-
rer Größe dort an den kantigen Felsen
fest angewachsen seien; einige habe er
gesehen, in deren haarigen Flossen oder
Armen große Fische sich windend und
krümmend ruhten, die diese Polypen an
sich drückten und aussogen. Indem er
dies Schauspiel schaudernd betrachtet,
hätten sich ihm von einer andern Seite
schon zwanzig dieser dünnen und langen
armartigen Sehnen entgegengestreckt, die
ihn ebenfalls hätten umschlingen wollen,
um ihn nach dem noch größern, fest-
sitzenden Polypen hinzuziehen, damit er
dem grauen, farblosen, ungestalteten Scheu-
sal zur Speise dienen könne. So habe
er schnell den Becher ergriffen und die
wiederkehrende Fluth benützt, um sich
wieder aus den Felsenriffen und den
Spalten hervor zu arbeiten und das
Tageslicht zu schauen.
Nun berichtet die Erzählung weiter:
Der König, dessen Neugier noch mehr sei
gestachelt worden, habe einen zweiten
Becher hinunter geschleudert und dem
Schwimmer außerdem eine große Summe
Gold gezeigt, die er ihm schenken wolle,
wenn er auch den zweiten Becher dem
Abgrunde wieder entführe. Nicola, so
entsetzt er von den unterirdischen Schau-
spielen gewesen, habe sich von Eigennutz
und Gier nach Geld blenden lassen, sei
nach einigem Bedenken wieder in den
Sprudel gesprungen, aber niemals wie-
der erschienen*).
*) Dieser Erzählung entnahm Schiller den
Stoff zu seinem Gedichte: „Der Taucher".
24. Der Rabe
Zu Anfang des sechzehnten Jahr-
hunderts regierte als Bischof von Merse-
burg a/S. Thilo von Th rot ha.
Dieser war ein gar jähzorniger Herr,
zumal, wenn ihm irgend eine Wider-
wärtigkeit seine gute Laune verdarb.
Dies geschah einstmals, als er den gan-
zen Tag auf seinem Rosse durch Sumpf
und Moor gesprengt war, ohne nur ein
einziges Wild erlegt zu haben. Ver-
drießlich zog er heim nach seinem Schlosse,
zu Merseburg.
warf die Jagdkleider ab und begab sich
in sein Gemach, wo sein alter Kämmerer
Johannes, ein silberhaariger Greis,
seiner haarte. Nun besaß der Bischof
einen goldenen Siegelring, der ihm als
Geschenk eines Freundes besonders theuer
war, und den er in einem Kästchen auf-
zubewahren pstegte. In der Eile hatte
er dasselbe am frühen Morgen unver-
schlossen mit dem Kleinod am offenen
Fenster stehen lassen, und als er jetzt