1867 -
München
: Königl. Central-Schulbücher-Verl.
- Autor: Marschall, Georg Nicolaus
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lehrerbuch
- Schultypen (WdK): Mittlere Lehranstalten, Fortbildungsschule, Präparandenschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Mittlere Lehranstalten, Niedere Lehranstalten, Lehrerbildungsanstalten
- Bildungsstufen (OPAC): ISCED 2 – Sekundarstufe 1, Klassen 5/6/7 – 8/9/10
- Schulformen (OPAC): Gewerbeschule, Handelsschule, Landwirtschaftsschule, Präparandenanstalt, Mittelschule
- Regionen (OPAC): Bayern
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I. Erzählungen.
34. Der Unzufriedene.
(Parabel.)
In einem schattigen Thälchen, nicht
weit von der Heerstraße, war eine Baum-
schule angelegt. Ein schöneres Plätzchen
hätte auch Niemand dazu finden können.
Die jungen Pflänzlinge erfreuten sich der
Morgensonne, während ein naher, stark
bewaldeter Berg Nachmittags erquicken-
den Schatten gab. Von der Landstraße
war das Thal gerade weit genug ent-
fernt, um vor lästigem Staube gesichert
zu sein, und seine Seitenwände schützten
die jungen Bäumchen vor scharfen Winden.
Es war ein fröhliches Leben in der
Baumschule. Junge Pappeln, Kirschen-
und Apfelbäume, Kastanien-, Ahorn-,
Pflaumen- und Nnßbänme, alle wuchsen
in geregelten Reihen munter empor und
sahen so frisch und kräftig aus, daß
jeder Wanderer überrascht stehen blieb
und die liebliche Pflanzung mit Freuden
betrachtete.
Nur ein Kirschbäumchen war mit
seiner Stellung nicht zufrieden. „Ach,"
seufzte es oft, „wie eng und gedrückt
stehe ich doch hier, nach keiner Seite
hin habe ich Aussicht ins Freie! Und
lebt man einmal ein bischen auf, macht
man sich nur ein klein wenig breit, so
kommt flugs der Gärtner mit seinem
scharfen Messer und schneidet Einem die
besten Zweige vom Stamme herunter,
daß man laut aufschreien möchte. Und
wenn er nicht an mir herumschneidet,
so hackt er mir doch an den Wurzeln,
daß ich über und über erzittere, oder er
schnürt mich so fest an einen Pfahl, daß
mir das Blut stocken möchte und ich mich
nach keiner Seite hin frei bewegen kann."
So seufzte und klagte das Bäumchen
oft und wünschte nichts sehnlicher, als
endlich aus dem Thale erlöst zu sein
und an die Heerstraße versetzt zu wer-
den, wo mehr Freiheit herrschte, wo die
großen Bäume standen und ihm öfters
zuzuwinken schienen.
Dieser Wunsch sollte auch bald er-
füllt werden; denn eines Tages kam der
Gärtner, säuberte den Boden um das
Bäumchen, hob es mit einigen kräftigen
Spatenstichen aus der Erde und trug
es vorsichtig hinauf an die Heerstraße.
Hier wartete seiner schon eine Vertie-
fung, in welche es alsbald eingesetzt und
mit Erde umschüttet wurde, die der
Gärtner festtrat. Dann schlug er einen
Pfahl ein, band es daran fest, gab ihm
noch einmal zu trinken und ging seines
Weges. Das Alles kam so schnell und
plötzlich, daß das Bäumchen gar nicht
recht wußte, wie ihm geschah und seinen
Jugendgefährten nicht einmal Lebewohl
sagen konnte.
Ob's unser Kirschbäumchen nun wirk-
lich besser hatte; — ob es nun recht
zufrieden war? Anfangs und nachdem
das bischen Heimweh vorüber, schien es
so, und das Bäumchen wuchs zusehends
und machte sich recht breit und schaute
mit stolzem Selbstgefühle ins Thal hinab
auf seine Jugendgenossen. Aber nach
einigen Wochen umwölbte sich der Him-
mel, ein heftiger Wind erhob sich mit
Regenschauer begleitet, und hätte unser
Kirschbäumchen nicht den Stab zur Seite
gehabt, so würde es ihm schlimm er-
gangen sein. Aber auch dieses Beistan-
des sollte es sich nicht lange mehr freuen,
denn eines Abends spät kam ein die-
bischer Mensch, schnitt die Weiden, mit
denen das Bäumchen festgebunden war,
hastig durch, riß den Pfahl aus der
Erde und lief damit rasch von dannen.
Nun hatte das Bäumchen keinen Schutz
mehr und war öfters in großer Gefahr,
vom Sturme gebrochen zu werden. End-
lich legte sich dieser, aber bald kamen
neue Leiden. Wochenlang brannte die
Sonne vom wolkenlosen Himmel herab,
unser Bäumchen verschmachtete fast vor
Durst, aber mehr noch plagte es der
Staub, den jeder Luftzug oder Wagen
und jede Viehheerde aufwirbelte, der sich
ihm dann auf alle Blätter und Zweige
setzte, ihm den Athem erschwerte und
einen großen Theil seiner Blüthen er-
stickte. Auch dieses Leid wurde über-
standen, denn endlich kam ein erfrischen-
der Regen, wusch den Staub hinweg
und stärkte unser Bäumchen so, daß es
wieder wachsen und Früchte ansetzen