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1. Deutsches Lesebuch für Mittelschulen - S. 54

1867 - München : Königl. Central-Schulbücher-Verl.
54 I. Erzählungen. 34. Der Unzufriedene. (Parabel.) In einem schattigen Thälchen, nicht weit von der Heerstraße, war eine Baum- schule angelegt. Ein schöneres Plätzchen hätte auch Niemand dazu finden können. Die jungen Pflänzlinge erfreuten sich der Morgensonne, während ein naher, stark bewaldeter Berg Nachmittags erquicken- den Schatten gab. Von der Landstraße war das Thal gerade weit genug ent- fernt, um vor lästigem Staube gesichert zu sein, und seine Seitenwände schützten die jungen Bäumchen vor scharfen Winden. Es war ein fröhliches Leben in der Baumschule. Junge Pappeln, Kirschen- und Apfelbäume, Kastanien-, Ahorn-, Pflaumen- und Nnßbänme, alle wuchsen in geregelten Reihen munter empor und sahen so frisch und kräftig aus, daß jeder Wanderer überrascht stehen blieb und die liebliche Pflanzung mit Freuden betrachtete. Nur ein Kirschbäumchen war mit seiner Stellung nicht zufrieden. „Ach," seufzte es oft, „wie eng und gedrückt stehe ich doch hier, nach keiner Seite hin habe ich Aussicht ins Freie! Und lebt man einmal ein bischen auf, macht man sich nur ein klein wenig breit, so kommt flugs der Gärtner mit seinem scharfen Messer und schneidet Einem die besten Zweige vom Stamme herunter, daß man laut aufschreien möchte. Und wenn er nicht an mir herumschneidet, so hackt er mir doch an den Wurzeln, daß ich über und über erzittere, oder er schnürt mich so fest an einen Pfahl, daß mir das Blut stocken möchte und ich mich nach keiner Seite hin frei bewegen kann." So seufzte und klagte das Bäumchen oft und wünschte nichts sehnlicher, als endlich aus dem Thale erlöst zu sein und an die Heerstraße versetzt zu wer- den, wo mehr Freiheit herrschte, wo die großen Bäume standen und ihm öfters zuzuwinken schienen. Dieser Wunsch sollte auch bald er- füllt werden; denn eines Tages kam der Gärtner, säuberte den Boden um das Bäumchen, hob es mit einigen kräftigen Spatenstichen aus der Erde und trug es vorsichtig hinauf an die Heerstraße. Hier wartete seiner schon eine Vertie- fung, in welche es alsbald eingesetzt und mit Erde umschüttet wurde, die der Gärtner festtrat. Dann schlug er einen Pfahl ein, band es daran fest, gab ihm noch einmal zu trinken und ging seines Weges. Das Alles kam so schnell und plötzlich, daß das Bäumchen gar nicht recht wußte, wie ihm geschah und seinen Jugendgefährten nicht einmal Lebewohl sagen konnte. Ob's unser Kirschbäumchen nun wirk- lich besser hatte; — ob es nun recht zufrieden war? Anfangs und nachdem das bischen Heimweh vorüber, schien es so, und das Bäumchen wuchs zusehends und machte sich recht breit und schaute mit stolzem Selbstgefühle ins Thal hinab auf seine Jugendgenossen. Aber nach einigen Wochen umwölbte sich der Him- mel, ein heftiger Wind erhob sich mit Regenschauer begleitet, und hätte unser Kirschbäumchen nicht den Stab zur Seite gehabt, so würde es ihm schlimm er- gangen sein. Aber auch dieses Beistan- des sollte es sich nicht lange mehr freuen, denn eines Abends spät kam ein die- bischer Mensch, schnitt die Weiden, mit denen das Bäumchen festgebunden war, hastig durch, riß den Pfahl aus der Erde und lief damit rasch von dannen. Nun hatte das Bäumchen keinen Schutz mehr und war öfters in großer Gefahr, vom Sturme gebrochen zu werden. End- lich legte sich dieser, aber bald kamen neue Leiden. Wochenlang brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel herab, unser Bäumchen verschmachtete fast vor Durst, aber mehr noch plagte es der Staub, den jeder Luftzug oder Wagen und jede Viehheerde aufwirbelte, der sich ihm dann auf alle Blätter und Zweige setzte, ihm den Athem erschwerte und einen großen Theil seiner Blüthen er- stickte. Auch dieses Leid wurde über- standen, denn endlich kam ein erfrischen- der Regen, wusch den Staub hinweg und stärkte unser Bäumchen so, daß es wieder wachsen und Früchte ansetzen
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