1854 -
Münster
: Aschendorff
- Autor: ,
- Hrsg.: ,
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Schultypen (WdK): Elementarschule
- Schultypen Allgemein (WdK): Niedere Lehranstalten
- Konfession (WdK): Römisch-Katholisch
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dünnen Fasern müssen aber dick werden, denn nun gilt es,
einen langen Halm mit einer schweren Aehre zu tragen.
In demselben Maße, als sich unten in der Erde das
Würzelchen ausbreitet, heben sich auch die saftigen grünen
Grasblättchen frisch über die Erde empor. Das Licht und die
Sonnenwarme kochen in den feinen Röhrchen, welche in dem
Halme auf- und niedersteigen wie die Adern in dem Körper,
einen Saft aus, der so süß und nahrhaft ist, daß Schafe
und Kühe, Ziegen und Pferde kein Gras lieber verzehren,
als das Korngras. Dieses hat einen solchen Trieb, in die
Höhe zu wachsen, daß, wenn es auch von den Thieren ab-
geweidet, oder von den Menschen abgeschnitten ist, es nur
desto fröhlicher wieder emporschießt, um in seiner Aehre den
Menschenkindern diejenige Speise zu bereiten, welche sie am
nothwendigsten brauchen, und ohne die der Arme wie der Reiche
nicht wohl leben kann, und welche für unsere Gegend der
größte Segen Gottes ist — nämlich das Brod.
Das junge, weiche Aehrchen zeigt sich schon sehr früh,
wenn der Halm noch ganz klein ist, in ein Blatt wie in ei-
nen grünen Mantel eingewickelt. Doch die Aehre darf nicht
so tief unten am Erdboden bleiben — die aus der Erde auf-
steigenden feuchten Dünste würden ihr schaden und sie nicht
zur Reife kommen lassen; darum steigt sie immer höher und
schlanker empor. Je länger der Halm, desto reiner entwickelt
sich der aus den Wurzeln aufsteigende Nahrungssaft, desto
besser kann ihn auf diesem langen Wege, den er zu machen
hat, die Sonne auskochen und zubereiten, daß er zu dem
mehligen Korne sich verdichtet. Zwar schwankend und dünn
ist das Rohr, auf dessen Spitze die Aehre sich wiegt; doch
hat es starke Knoten, daß der Wind es nicht zerknickt, und
biegsame Fasern, daß es vor dem Sturme sich beugt, der
oft die Zweige der mächtigen Eiche zerbricht und die hohe
Fichte entwurzelt. Jene Knoten haben, um den emporsteigen-
den Saft hindurch zu lassen, viele kleine Löcher. Die Fasern
kreuzen sich hier und bilden so ein festes Gewebe, gleichsam
ein Knochengelenk.
Die kleinen und feinen Korngrasblätter, welche mit ih-
rem ftischen Grün dem Frühlingsgefilde ein so schönes Fest-
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