1855 -
Hamburg
: Kittler
- Autor: Kröger, Johann Christoph
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
- Inhalt Raum/Thema: Geographie, Region?
- Inhalt: Zeit: Geographie
454
Eingebungen hielt man für gar nicht unwahrscheinlich. Doch wollte Karl sie erst auf
die Probe stellen. Er ließ sie zu sich führen, nachdem er alle königlichen Abzeichen
abgelegt und sich unter seine Hofleute verborgen hatte. Aber-sogleich fand sie ihn
unter allen heraus, ob sie ihn gleich noch nie gesehen hatte. Dann vertrauete sie
ihm, um ihre göttliche Sendung zu beweisen, den Traum an, den sie in der letzten
Nacht gehabt hatte, versprach ihm, ihn zur Krönung nach Rheims (der alten Krö-
nungsstadt der französischen Könige) zu führen, und verlangte, man sollte ihr ein
bezeichnetes Schwert aus einer benachbarten Wallfahrtskapelle holen. Daß sie den
König habe belügen wollen, laßt sich wohl nicht denken, sondern wahrscheinlich ist,
daß sie sich selbst für eine vom Himmel Auserkorne hielt, und daß jene angeblichen
Wunder erdichtet wurden, um ihr das Vertrauen des Volks und der Soldaten zu
verschaffen. Der König war oder stellte sich ganz überzeugt von ihrer himmlischen
Sendung. Er behielt sie bei sich, erwies ihr ungemeine Ehre, ließ ihr gleich eine
Rüstung machen und eine weiße Fahne, auf welche Gott selbst mit einer Weltkugel
gemalt war. So zeigte er sie dem Heere, welches ihr laut entgegen jauchzte und
nun unbesiegbar zu sein glaubte. Wie sehr der feste Glaube an himmlischen Bei-
stand auf ein Heer wirken kann, ist schon von der Eroberung von Jerusalem her
bekannt und zeigt sich auch hier wieder. Es war urplötzlich ein ganz neuer Geist in
die Soldaten gefahren, und ungeduldig warteten sie auf das Zeichen der Schlacht.
Die erste Gelegenheit, wo das Mädchen benutzt werden sollte, war ein Versuch,
den der Graf Dunois machte, die halb verhungerten Einwohner von Orleans mit
Lebensmitteln zu versehen. Ein Haufen Soldaten war versammelt, den Zug nach
Orleans zu beschützen. Vorher befahl die Jungfrau, daß alle Soldaten beichten
müßten; dann führte sie Zucht und Ordnung wieder ein. Jetzt schrieb sie an die
Anführer der Engländer, die vor'orleans standen, und befahl ihnen, sogleich die
Belagerung aufzuheben und Frankreich zu verlassen. „Gebt heraus", ließ sie ihnen
sagen, „die Schlüssel alle von den Städten, die ihr bezwungen wider göttliches Recht.
Die Jungfrau kommt vom Könige des Himmels, euch Frieden zu bieten oder blu-
tigen Krieg. Wählt! denn das sage ich euch, damit ihr's wißt: das schöne Frank-
reich ist nicht für euch beschieden!" — Die Engländer lachten. „Nun!" sagten
sie, „Karl muß doch schon sehr in Noth sein, daß er zu Weibern seine Zuflucht
nimmt." — Aber im Herzen war ihnen ganz anders zu Muthe. Abergläubisch
waren sie so gut wie die Franzosen und dachten voll Angst daran, wo das Alles
noch hinaus wolle. Der Zug mit den Lebensmitteln brach auf; die Jungfrau
führte sie an mit der weißen Fahne, und sie sehen und die Waffen wegwerfen, war
bei den Engländern eins. Ohne Schwierigkeit wurden die Vorräthe in die Stadt
geschafft; Johanna selbst, die nun das Mädchen von Orleans genannt wurde, hielt
ihren Einzug in die befreite Stadt, deren Einwohner sie als ihre Retterin empfingen.
Man richtete ihr eine gute Wohnung ein bei dem Schatzmeister des Herzogs von
Orleans, entkleidete sie — denn sie war den ganzen Tag zu Pferde und unter den
Waffen gewesen und müde — und setzte ihr eine treffliche Mahlzeit vor. Aber mä-
ßig, wie sie war, rührte sie nichts davon an; sie nahm nur eine Schale, füllte sie
mit Wasser und Wein und schnitt einige Stückchen Brot hinein. Mehr aß sie nicht.
Im englischen Lager war Alles wie verwandelt. Die Engländer waren so fest
überzeugt von ihrer himmlischen Sendung, daß sie nicht gegen sie fechten wollten
und gleich die Flucht ergriffen, sobald sie sich nur mit ihrer Fahne zeigte. Daher
ließen sie auch nun die Franzosen in die Stadt und aus derselben ziehen, wie sie nur
wollten. Die Franzosen, die sich bisher furchtsam hinter den Mauern verkrochen
hatten, griffen nun selbst die Engländer an und nahmen ihnen eine Schanze nach
der andern weg. Bei dem einen Angriffe wurden die Franzosen zurückgeschlagen;
nur Johanna wollte nicht weichen und war schon ringsum von Feinden umgeben.