1844 -
Darmstadt
: Ollweiler
- Hrsg.: Nister, Friedrich
- Sammlung: Realienbuecher vor 1871
- Schulbuchtyp (WdK): Lesebuch
So ist jener scharf austrocknende Wind, welcher unter dem
Namen des Harmattan bekannt ist, die größte Wohlthat für die
Gegenden Afrika's, welche, statt des Winters, eine lange anhal-
tende Regenzeit haben. Denn die überhand nehmende Feuchtigkeit
bedroht das ganze Land mit Versumpfung; alle Niederungen sind
überschwemmt; die Menschen erkranken an bösartigen Fiebern und
Rühren. Plötzlich tritt der Harmattan von Norden her ein. Der
Himmel ist wie vom Nebel bedeckt und trübe, doch ohne Gewölk.
Der Wind bläst heiß und trocken. Niemand kann sich ihm ohne
Lebensgefahr aussetzen. Er ist so trocken, daß ihm preisgegebene
Thiere nach wenigen Stunden umkommen; daß den Menschen die
Lippen aufspringen, und die Augen sich entzünden, daß die Land-
seen und Pfützen schnell versiegen; daß alles Holzwerk zusammen-
schwindet und reißt. Aber die allgemeine Nasse ist dann verschwunden
nach wenigen Tagen, und alle Krankheiten, welche Folgen der nassen
Jahreszeit waren, sind durch den Harmattan eben so plötzlich geheilt.
Also werden die Windstürme, wie grausenhaft auch zuweilen
ihre Gestalt seyn mag, nur Diener der göttlichen Gnade gegen das
menschliche Geschlecht. Wie sie in den heißen Himmelsstrichen die
Erde nach der langen Regenzeit austrocknen und fruchtbar machen;
wie sie dort Fänlniß verhüten und Krankheiten heilen; so müssen
sie in den kalten Gegenden des Erdkreises das Eis von den Ufern
der Länder und Inseln wegbrechen, damit die Meere schiffbar wer-
den; müssen sie jenen winterlichen Fluren, wo die Erde nicht mehr
Kraft hat, Bäume hervorzubringen, aus gemäßigteru Ländern
Treibholz mit den Wellen herbeiführen, daß die einsamen Bewoh-
ner der Schneefelder sich Hütten bauen Und erwärmen können.
Wahrlich bei diesem Anblicke der weisen Fürsorge des Welten-
kölugs für sein unermeßliches Reich, bei diesem Anblicke seiner
Wundermacht, in welcher er den Lauf und Einfluß entfernter Wel-
ten des Himmels mit dem Wohlseyn von einzelnen Bewohnern un-
sers Erdballs verknüpft; bei dem Allblicke der unbändigen Sturm-
winde, die selbst in ihrem schauerlichsten Walten nur Diener seiner
ewigen Huld für das menschliche Geschlecht seyn müssen — wer
könnte da ohne Erstaunen, ohne Rührung, ohne Trieb zur dank-
baren Anbetung des allein Anbetungswürdigen bleiben? Wer
sollte da länger zweifeln, daß auch das scheinbare Natnrckbel zuletzt
nur eine der fruchtbringendsten Segnungen sey? Wer könnte
länger zweifeln, daß denen, die Golt gehören, nicht endlich alle
Dinge zum Besten gereichen müssen?
152. Gewalt und Liebe.
Wind und Sonne machten Wette, Wind verzweifelt nun und ruht;
Wer die meisten Kräfte hätte, Und ein lieber Sonnenschein
Einen armen Wandersmann Füllt mit holder, sanfter Gluth
Seiner Kleider zu berauben. Wanderers Gebein.
Wind begann; Hüllt er sich nun tiefer ein?
Doch sein Schnauben Nein! —
That ihm nichts; der Wandersmann Abwirft er nun sein Gewand,
Zog den Mantel dichter an. Und die Sonne überwand.